Eine gnadenlos offene Beziehung

„Scheißbürgerlich“. Das Stichwort war zugleich Analyse und Dogma. Für die Alt-68er und die Generation, die ihnen folgte, diente es nicht nur der Betrachtung der Dinge und Verhältnisse um sie herum, sondern auch als Richtwert für das eigene Leben. Insbesondere für das Private. Sie wollten Liebe – aber ohne Vertrag. Beziehung – aber ohne Einschränkung. Sexualität – aber ohne Besitzergreifen. Die Zweierbeziehung zwischen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir galt als Beweis, dass all das möglich und vereinbar wäre. Die beiden PhilosophInnen sprachen von Freiheit, machten gemeinsame Reisen und politische Kampagnen, pflegten – gemeinsam oder getrennt – parallele Liebesbeziehungen, wohnten nie unter demselben Dach, siezten sich und blieben – dennoch oder, wie de Beauvoir mutmaßte, „gerade deswegen“ – 51 Jahre lang zusammen: von 1929, als sie sich an der Universität kennen lernten, bis zu Sartres Tod.

Weil sie gegen die „beschränkende Verbürgerlichung“ und gegen die „institutionalisierte Einmischung des Staates in Privatangelegenheiten“ war, lehnte de Beauvoir, Sprössling einer großbürgerlich-katholischen Familie, die Hochzeit ab, die Sartre ihr anbot. Er hatte den Vorschlag pragmatisch begründet. Mit einer Eheschließung wäre es für die beiden damaligen PhilosophielehrerInnen, die in verschiedenen französischen Städten im Staatsdienst arbeiteten, möglich gewesen, ihre Versetzung an einen gemeinsamen Standort zu beantragen.

Statt der bürgerlichen Ehe schlossen Sartre und de Beauvoir einen „Pakt“. Sie lehnten die Monogamie ab. Gewährten sich gegenseitig die Freiheit zu parallelen Liebesbeziehungen. Und versprachen sich gnadenlose Offenheit: alles erzählen, nichts beschönigen. Der Pakt begleitet die beiden ein Leben lang.

Sartre, den Zeitgenossen als „klein und unattraktiv“ beschreiben und für den Attribute wie „einäugige Kröte“ überliefert sind, pflegt ein ausschweifendes Sexualleben. Zu seinen Eroberungen gehörten Studentinnen wie „Wanda“ und „Olga“, deren Vornamen heute fester Bestandteil seiner Vita sind, aber auch Frauen, wie die in New York lebende Schauspielerin Dolores Vanetti Ehrenreich, mit der er jahrelang zusammen war. De Beauvoir ihrerseits hat sowohl Beziehungen zu Frauen – darunter auch Geliebte von Sartre – als auch zu Männern. Ihren posthum veröffentlichten Korrespondenzen mit einigen Liebhabern lassen erkennen, dass Sartre für sie „wenig körperlich“ ist und „vor allem zärtlich“. Ihm gegenüber „fühle ich mich nicht verpflichtet. Auch, weil er es mir gegenüber nicht ist“, schreibt sie 1939 in einem Brief an ihren Liebhaber Jacques-Laurent Bost.

Ein Jahrzehnt später ist Simone de Beauvoir lange mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren zusammen. Ihre 304 Liebesbriefe an „meinen geliebten Nelson“ und „meinen geliebten Mann“ stellen an Zärtlichkeit, Verspieltheit und Intensität alles in den Schatten, was sie je an Sartre geschrieben hat.

Dennoch hält der Pakt zwischen den beiden PhilosophInnen und überlebt sämtliche Beziehungen. Am Tag von Sartres Beerdigung steht de Beauvoir wie seine Witwe am Grab.

Keiner der beiden hat den eigenen Pakt je als Modell für andere bezeichnet. Schon gar nicht als Dogma. Aber in den linken Protestbewegungen der westlichen Welt war er das am besten bekannte Hauptwerk aus dem schöpfungsreichen Leben des Paars. Tausende ahmten den Sartre-de-Beauvoir-Pakt nach, von dem nur die Fassade bekannt ist, lebten eine „moderne Zweierbeziehung“ à la Sartre und de Beauvoir. Als würden sie dadurch dem Ideal eines kreativen, politisch engagierten und bewegten Lebens näher rücken.

Für das mythische Paar galten die Bedenken gegen die „institutionalisierte Einmischung des Staates in Privatangelegenheiten“ nur situativ. In anderen Lebenslagen setzten Sartre und de Beauvoir den Staat ganz pragmatische für ihre private Lebensplanung ein. Unter anderem verschafften sie sich beide auf staatlichem Wege trotz Kinderlosigkeit legale Erben. Unabhängig voneinander adoptierten sie eine ihnen besonders nahe stehende junge Frau. Sartre tat das schon im Jahr 1965 mit einer aus Algerien stammenden Studentin. De Beauvoir wartete bis 1980. Nach Sartres Tod adoptierte sie eine langjährige Freundin. Ebenfalls als Nachlassverwalterin.

DOROTHEA HAHN