Täter in Weiß

ERINNERN Kinder-Euthanasie wurde in der Nazizeit zur Normalität. Behinderte galten als „lebensunwert“. Eine Ausstellung, zwei Reflexionen

■ Der Tag: Am 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Es wird an alle Verfolgten des NS-Regimes erinnert, an Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle und politisch Andersdenkende. 2005 wurde der 27. Januar auch zum Internationalen Holocaustgedenktag erklärt.

■ Die Ausstellung: Die Sonderausstellung „Im Gedenken der Kinder“ im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors zeigt die Medizinverbrechen an mehr als zehntausend meist behinderten Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit. Die Wanderausstellung ist bis 20. Mai 2012 in Berlin, danach in Hamburg und Leipzig zu sehen.

Wo früher Zwischenstation war auf dem Weg zum Tod, Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin, oben die Verhörsäle, rechts das Hausgefängnis, darin die, die zu den ärgsten Feinden des Systems gezählt wurden, die, für die es danach oft wenig gab, und wenn doch etwas, dann meist das KZ Sachsenhausen – Kommunisten, Widerständler, Juden –, wo Verbrechen zu Paragrafen wurden und Paragrafen zu Verbrechen, dort war lange: nichts.

Denn als auch die Überreste der Gestapo-Zentrale abgerissen wurden, dieses Orts der Verwaltung von Massentötung und Terrorakten, klaffte da nur ein weiteres Loch. Ein weiteres Stück Ödnis mitten in der Stadt.

„Mit dem Fahrrad bin ich oft dran vorbeigefahren, Ende der Siebziger“, sagt die Kollegin. Zur ersten Nachkriegsgeneration gehört sie, ihr Vater war Soldat. „Auf der einen Seite die Mauer, auf der anderen Seite Brachland. Eine Leerstelle, dachte ich damals. Mit einem Verkehrsübungsplatz darauf.“

Und heute? Wo die Straße jetzt Niederkirchnerstraße heißt, wo jetzt Dokumentationszentrum, die Topographie des Terrors, ist, ist die Geschichte jetzt erzählt und bebildert? „Es gibt immer noch viele Lücken“, sagt sie, den Blick auf eine Tafel gerichtet, auf der steht, dass schon dreizehn Jahre vor Hitlers Machtergreifung geistig und körperlich Behinderte als „Idioten“, „Ballastexistenzen“, als „lebensunwert“ bezeichnet und „auf einem intellektuellen Niveau“ in die „Tierreihe“ eingestuft wurden.

So beginnt die Sonderausstellung „Im Gedenken der Kinder“, die erinnern will an mindestens zehntausend meist behinderte Kinder und Jugendliche, die zur NS-Zeit Opfer brutaler Medizinverbrechen wurden: Mit einem vergilbten Schriftstück, unterzeichnet von Karl Binding und Alfred Hoche, datiert auf 1920. Der eine ein Dr. jur. et. phil., der andere ein Dr. med. Sie nennen ihr Pamphlet „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“, sie nennen die Vernichtung Beeinträchtigter einen „nützlichen Akt“. Man bedenke doch die wirtschaftliche Rechnung. Die Einsparungen. Das Kapital.

„Maß und Form“, wiederholt die Kollegin, sie weicht einen Schritt zurück. Mit Maß und Form erhält das willentliche Töten behinderter, gesunder, glücklicher Sechs-, Zehn- oder Sechzehnjähriger sterile Neutralität. Es legt Morde fein säuberlich in Ordnern ab, notiert von Ärztinnen und Ärzten, die Kindern hochdosierte Schlafmittel spritzten, sie verhungern ließen, mit Erregern infizierten, zwangssterilisierten, die entschieden, ob ein Säugling leben darf. Nach eigenem Ermessen: Ist das Kind bildungsfähig oder ein Fall für die „Aktion Gnadentod“ in der Gaskammer einer sogenannten Heil- und Pflegeanstalt? Oder auch: per „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, verabschiedet am 14. Juli 1933.

„Maß und Form“, fällt der Kollegin auf, während sie die Ausstellungstexte liest, und dann „Zweck und Verwertung“. Die Arisierung im Dritten Reich schien einem Regelwerk, einer Formel zu folgen – und im Nominalstil stattzufinden. Bürokratendeutsch kennt viele Substantive und Passivkonstruktionen, aber wenige Verben und Namen. Wenige Akteure.

Die Ausstellung gibt den Akteuren Namen. Sie verortet. Julius Hallervorden, Friederike Pusch, Hans Hefelmann, Johann Duken, Richard von Hegener, Medizin, Therapie, Pathologie, Stuttgart, Wien, Brandenburg, Heidelberg, Jena. Die Kollegin schaut in die Gesichter der Täter, auf diese Schwarz-Weiß-Fotos von Menschen, die lächeln, sie schaut auf das hohe Alter, das sie teilweise erreicht haben. „Ob sie bequem gelebt haben?“

Ob sie danach weiterpraktiziert haben? Weiterbehandelt, weitergeforscht? „Ich will weniger Leerstellen“, sagt die Kollegin. Sie sagt es bestimmt. ANNABELLE SEUBERT

Die Topographie des Terrors in Berlin ist ein rauer Fleck Erde. Einer, auf dem Steine liegen. Einer, wo Erinnerung kostbar ist. Deshalb kann eine Ausstellung „Im Gedenken der Kinder“ heißen. Welcher Kinder? Welches Gedenken?

Nach fünfundsechzig Jahren bekommt die Kindereuthanasie, die in der Nazizeit mit professioneller Routine ausgeübt wurde und im Zuge derer mindestens zehntausend Minderjährige vergast, vergiftet, ausgehungert wurden, eine große Öffentlichkeit – in einer Sonderausstellung in der Halle auf dem Topographie-Gelände. Einst stand auf dem Karree der Prinz-Albrecht-Palais – „Prinz“, das steht sonst für Märchen und Happy End. Später war hier auch die Gestapo-Zentrale. Sie steht für Terror und Tod. Nach dem Krieg aber wurden mit der Tiefenenttrümmerung nicht nur die Spuren auf dem Gelände verwischt. Tiefenenttrümmern, das heißt: Vergessen. Totschweigen. Nichts wissen. Nichts gewusst haben wollen.

Und dann haben die Nachgeborenen doch angefangen, gegen den Widerstand der Tätergeneration, aus den tiefenenttrümmerten Resten das Bild wieder zusammenzusetzen. Viele Bilder zusammenzusetzen. Viele Hergänge zu rekonstruieren. Jetzt also gibt es auch die Aufarbeitung der medizinischen Verbrechen an Kindern. „Warum so spät?“, wird der Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin, die die Ausstellung initiiert hat, auf der Pressekonferenz gefragt. Er antwortet, dass die Aufarbeitung grundsätzlich spät kommt. Erst musste eine neue Generation da sein. „Eine unbelastete, die sich verantwortlich fühlt.“

Auf den Fotos und Faksimiles, die auf Stelltafeln kleben in der Topographie des Terrors, wird nun gezeigt, wie sich Ärzte bereitwillig die Verwertungslogik der Nationalsozialisten zu eigen machten und Kindern, die als „unwert“ galten, ihr Lebensrecht absprachen und sie töteten. „‚Unwert‘ ist das schlimmste Wort“, sagt die junge Kollegin. Zur zweiten Nachkriegsgeneration gehört sie, ihr Großvater war Soldat. „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, liest sie. „Da schnürt sich mir alles zusammen.“ Wert – unwert – lebensunwert – „die Sprache hat keine Grenze“, sagt sie.

Weil es kein Vollständiges gibt, scheut die Ausstellung das Unvollständige nicht: Zuerst werden die Vordenker der Verwertungslogik genannt. Dann wird gezeigt, wie die auf Linie gebrachte Ärzteschaft definiert, was ein gesundes Kind ist, und wie die Auslese beginnt. „Kinderfachabteilungen“ wurden eingerichtet. „Was neutral klingt, ist nicht neutral gemeint“, sagt die junge Kollegin. Auch Worte wie „Einschläferungsbefehl“, „Sterbebegünstigung“ oder „Reichsausschuss-Kinder“ sind nicht neutral gemeint.

In den Kinderfachabteilungen fand die Auslese statt. „Es wurden gesunde, muntere Kinder allein aufgrund der Feststellung, dass sie nie verwertbar für den ‚Volkskörper‘ sind, umgebracht. Es gab keine Förderung Behinderter, sondern Vernachlässigung bis in den Tod“, fasst der Vertreter der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin das Unrecht zusammen. „Es geht nicht um ethisches Verhalten, sondern um kriminelles.“ Und dann spricht er von etwas, wofür die Verantwortung nicht delegiert werden kann: „Heute ist die Frage: Kommt das behinderte Kind überhaupt zur Welt?“

Die Tätergeneration versuchte, die Erinnerung an das Unrecht auszulöschen. Die erste Nachkriegsgeneration aber hat sich das Wissen über das, was unter den Nazis geschah, wieder angeeignet – trotz kollektiver Amnesie. Und trotz der Leerstellen, die sich überall auftun und die sie füllt, indem sie sie benennt. Noch etwas aber muss sie tun, was die Eltern nicht taten: Sie muss mit der Generation, die nach ihr kommt, über das, was war, reden. „Für mich ist das unbegreiflich, wie Verbrechen Gesetz wurde“, sagt die junge Kollegin. WALTRAUD SCHWAB