Familie unter dem Seziermesser

Der Münchner Arzt und Schriftsteller Jens Petersen hat einen Roman geschrieben, dessen Sog man sich schwer entziehen kann. In „Die Haushälterin“ erzählt er – mit viel Freude am unappetitlichen Detail – die Geschichte einer öffentlichen Entblößung

Es gibt in der Geschichte viele Ärzte, die zugleich Literaten waren. Doch nicht vielen ist der klinische Blick so eigen wie Jens Petersen

VON JAN BRANDT

Im Herbst sah es noch ganz weiblich und düster aus. Im Herbst beklagten zum Beispiel der Spiegel und die Financial Times Deutschland unisono, dass es, nach Jahren der literarischen Euphorie, kaum noch deutsche Debütanten gebe. Dass sich kein großer Verlag mehr traue, Risiken einzugehen und unbekannte Schriftsteller zu fördern. Und dass die „Außenseiter der Branche“, Kleinverlage wie Kookbooks, Blumenbar, Ventil, Schöffling und Schirmer & Graf mit Silke Andrea Schuemmer, Anne Zielke, Kerstin Grether, Jana Scheerer und Lena Gorelik vor allem Nachwuchsautorinnen vorstellen. Von Männern dagegen: keine Spur.

Auch die Frühjahrsprogramme der Verlage sind wieder voller junger schreibender Frauen. Diesmal heißen sie: Sünje Lewejohann. Svenja Leiber. Claudia Klischat. Und Silke Scheuermann. Das sind ein paar außergewöhnliche, markante Namen. Viel außergewöhnlicher und markanter als Jens Petersen. Aber dafür hat Jens Petersen einen außergewöhnlichen und markanten Roman geschrieben mit dem Titel: „Die Haushälterin“. Es geht darin um zwei Männer und eine Frau. Es geht um Vater und Sohn. Um Abhängigkeiten. Grenzen. Tabus. Und um die erste und letzte Liebe.

Jens Petersen ist zwei Meter groß und 28 Jahre alt. Er kommt aus Pinneberg bei Hamburg und arbeitet als Arzt am Friedrich-Bauer-Institut in München. Tagsüber erforscht und behandelt er neurologische Krankheiten. Und abends, wenn er nach Hause kommt in seine Wohnung in der Ainmillerstraße, in der schon Thomas Mann, Michael Ende und Rainer Maria Rilke gewohnt haben, dann schreibt er Geschichten von Menschen, die zwar nicht krank, aber seltsam und sentimental und voll unausgesprochener Sehnsüchte sind.

Heute sitzt Jens Petersen nicht im Labor und auch nicht daheim am Schreibtisch, sondern in der „Friesischen Teestube“ in Schwabing, auf einem tiefen, abgewetzten Plüschsofa, trinkt Tee und raucht eine Zigarette nach der anderen. Weil Sonntag ist. Und weil er nervös ist. Er hat schon Interviews gegeben und nach Lesungen Fragen beantwortet. Aber jetzt geht es um sein erstes Buch. Um dieses Debüt. Um „Die Haushälterin“. Und er muss sich konzentrieren, wenn er die ganze Geschichte, die er da auf 175 Seiten entfaltet, noch einmal erzählen will, ohne ins Schlingern zu kommen.

Der namenlose Vater im Roman arbeitet bei den Hamburgischen Elektrizitätswerken. Seine Aufgabe besteht darin, die Kernkraftwerke zu warten. Aber dann wird er entlassen. Oder besser gesagt, er entlässt sich selbst. Er geht einfach nicht mehr hin, als er merkt, dass sein Chef ihn loswerden will. Er bleibt zu Hause, beginnt schon morgens Bier zu trinken, und bestellt jeden Abend für sich und seinen 16-jährigen Sohn „Ente süßsauer“ vom China-Food-Service. Er sitzt so lange im Sessel vor dem Fernseher, bis seine Haut die Farbe des Polsters annimmt, und lässt sich hin und wieder mit Frauen ein, mit einer Schuhverkäuferin und einer Sekretärin, die er benutzt „wie eine Arznei gegen das eigene Sterben“.

Was Petersen beschreibt, ist eine Art Post-Simpson-Ära, die Geschichte einer zerbrochenen Familie. Es ist, als seien Marge, Lisa und Maggie ums Leben gekommen und Homer und Bart ganz allein auf der Welt. Das ist eine ziemlich traurige Vorstellung: Wenn Vater und Sohn plötzlich aufeinander angewiesen sind und es niemanden mehr gibt, der sie in ihre Schranken weist, wenn sie ihren Humor verlieren und ihren Charme, und wenn sie als Ausgleich ihre Macken kultivieren und sich gehen lassen: Irgendwann stinkt der Vater nur noch nach Urin oder alter Bettwäsche. Er lässt die Haare auf dem Rücken wachsen, so dass er von hinten bald aussieht wie ein Tier. Und der Sohn, noch völlig unbehaart, pinkelt ins Waschbecken und isst die im Bad herumliegenden Schamhaare.

„Die Figuren sind ekelig, weil Menschen auch immer ein bisschen ekelig sind“, sagt Jens Petersen, trinkt einen Schluck Tee und nimmt einen Zug von seiner Zigarette, bevor er weitererzählt: Dann, eines Tages, stürzt der Vater die Kellertreppe herunter, bricht sich das Bein und kommt ins Krankenhaus. Der Sohn nutzt die Abwesenheit des Vaters, schaltet eine Anzeige in der Lokalzeitung und stellt die polnische Haushaltshilfe Ada ein.

Sie ist 23 Jahre alt, temperamentvoll und wirkt auf alte und junge Männer gleichermaßen attraktiv. Vater und Sohn schauen ihr beim Putzen zu. Sie beobachten, wie ihr beim Spülen die Träger ihres BHs von den Oberarmen rutschen. Wie sie geht und schläft und schwimmt. Sie lassen sich von ihr massieren und in der Gegend herumfahren. Sie ist, wie der Vater einmal sagt, „zu gebrauchen“. Und natürlich dauert es nicht lang, bis sich beide in Ada verlieben.

Das ist die Ausgangskonstellation, das Modell, das Jens Petersen Iwan Turgenjews Erzählung „Erste Liebe“ und Charles Simmons Roman „Salzwasser“ abgeschaut hat. Aber „Die Haushälterin“ ist mehr als eine literarische Adaption. Es entwickelt einen ganz eigenartigen Sog, weil es wunderbar und widerlich zugleich ist, weiter und immer weiter zu lesen, wie sich Vater und Sohn vor Ada und den neugierigen Nachbarn entblößen.

Jens Petersen hat seine Figuren in ein marodes Einfamilienhaus gesteckt und vor ein Problem gestellt. Er lässt sie an unsichtbaren Fäden ziehen, lässt sie wochenlang umeinander kreisen, lässt sie miteinander schlafen und reden, gibt Hinweise und deckt Geheimnisse auf, wartet ab, wie sie auf die Entdeckungen, die sie machen, reagieren, und notiert schonungslos ihre Selbsttäuschungen, Ausreden und peinlichen Annäherungsversuche.

Dezent streut Petersen medizinische Begriffe ein wie den „Darmbeinstachel“, das ist der spitze Beckenknochen „oberhalb ihres Gürtels“, und er schaut Ada, wenn sie gähnt, in den Körper hinein, sieht „die Mandeln und ihr schlankes Zäpfchen“, das der Sohn gerne berühren würde. Er beschreibt die Adern unter der Haut und die „galleartigen Flecken“ darüber.

Den Roman „Die Haushälterin“ hat Jens Petersen nur nebenbei geschrieben. Neben seinen Praktika in Florenz, Lima, Buenos Aires und New York, neben seinem Studium und der Doktorarbeit über „Klinische und molekulare Charakterisierung von Patienten mit Gliedergürteldystrophie“. Als Arzt müsse man da ja nicht viel schreiben, sagt er, jedenfalls keine dreihundert Seiten. Entscheidend seien die Untersuchungen. Die Praxis.

„Ich will aber davon Abstand nehmen, meinen medizinischen Alltag literarisch auszuschlachten“, sagt Jens Petersen. „Obwohl es schon Impulse gibt, diese Kliniken, die auch Monstren und Maschinen der Macht sind, sprachlich zu sezieren.“ Was er stattdessen seziert, ist der Alltag in einem Hamburger Vorort. Die Enge. Den Klatsch. Und die Brutalität, die daraus erwächst. Das Problem ist nur, dass er versucht, so präzise wie möglich zu sein. Die Pickel heißen bei ihm so wie in der Clerasil-Werbung „Mitesser“ und die Zigaretten „Sargnägel“. Der Vater trinkt kein Bier, sondern König Pilsener, der Sohn hört nicht einfach bloß Musik, sondern „Heaven belongs to you“, gesungen von Nina Simone, und zusammen essen sie Panna Cotta oder Moules à la belge. Alles muss ganz genau benannt werden. Da bleibt manchmal nur wenig Raum für Fantasie.

Es gab in der Literaturgeschichte viele Ärzte, die zugleich Schriftsteller waren. Friedrich Schiller. Alfred Döblin. Und Gottfried Benn. Und es gibt immer noch schreibende Ärzte, wie Uwe Tellkamp. Medizin und Literatur scheinen irgendwie zusammenzuhängen. Vielleicht, weil beide Disziplinen die ganze Bandbreite des menschlichen Lebens abdecken.

Von der Geburt bis zum Tod. Der Beruf, so scheint es, bringt den Stoff für gute Geschichten selbst hervor. Man muss ihn nur aufnehmen und aufschreiben. Dazu bleibt aber oft wenig Zeit. Jens Petersen musste sich zwingen, das, was er einmal angefangen hatte, die ersten Kapitel, die ersten Szenen, auszuarbeiten und zu Ende zu bringen. Zwei Jahre lang schrieb er jeden Abend eine Stunde lang an seinem Manuskript. Er sagte Verabredungen ab. Hielt sich aus der Kino- und Partyplanung raus. Wollte allein sein. Und schreiben. „Das führt natürlich zu Zerwürfnissen“, sagt Jens Petersen. Zu was für Zerwürfnissen? „Mit meiner letzten Freundin zum Beispiel. Es gab viele Gründe, warum die Beziehung gescheitert ist, aber die Arbeit an dem Roman war sicherlich einer. Ich muss schreiben. Wenn ich zwei Wochen nicht schreibe, dann werde ich depressiv. Und wenn ich dann wieder schreibe und das Gefühl habe, das ist gelungen, dann geht es mir auch besser. Das ist wie eine Sucht.“

Eine neue Freundin würde er aber nicht danach aussuchen, ob sie damit klar kommt oder nicht. „Wenn ich mich für einen Menschen begeistere, ist mein Schreiben in dem Moment sekundär.“ Dann drückt er seine letzte Zigarette aus, steht auf und zieht seinen Mantel an. Wie um zu zeigen, dass er alles im Griff hat. Dass er jederzeit davon loskommen könnte, wenn er wollte. Aber er hat ja gerade erst angefangen mit der Literatur. Und am Anfang ist jede Droge irgendwie cool und verheißungsvoll. So cool und verheißungsvoll wie „Die Haushälterin“.

Jens Petersen: „Die Haushälterin“. Roman, DVA, München 2005, 175 Seiten, 17,90 €