Der Al Gore aus Japan

Der informelle Gipfel der Weltelite in Davos erlebte gestern eine seltsame Wiederauferstehung. Als offizieller Vertreter Japans tauchte dort der frühere Regierungschef Naoto Kan auf, der wegen seiner schwachen Führung beim Atomdesaster in Fukushima Ende August aus dem Amt gedrängt worden war.

Doch Kan distanzierte sich von seinem Nachfolger Yoshihiko Noda, der die Atomenergie länger einsetzen will, und hielt ein flammendes Plädoyer gegen die friedliche Nutzung der Kernspaltung. „Wir sollten uns um eine Welt bemühen, die ohne Atomkraft funktioniert“, forderte der 65-Jährige seine Zuhörer auf. Dabei sinke auch die Gefahr der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen. Der Expremierminister hat damit seine Katharsis vom naiven Befürworter „sauberer“ Atomkraft als Mittel gegen die Klimaerwärmung zu einem Antiatomaktivisten vollendet, der radioaktive Strahlung als „unsichtbaren Feind“ brandmarkt. Geläutert wurde der Politiker durch das Erlebnis des Fukushima-GAUs. „Es ging um das Schicksal der Nation“, erklärte Kan erstmals seine Anordnung an den Stromversorger Tepco, die Kraftwerke nicht aufzugeben. „Japan hätte ein Drittel oder sogar die Hälfte seiner Fläche verlieren können“, gestand er seine schlimmste Befürchtung. Mit seinem Comeback als japanischer Al Gore kehrt Kan zu seinen Wurzeln in Japans linksgerichteter Bürgerrechtsbewegung zurück. Schon 1982 setzte sich der studierte Physiker als frisch gewählter Abgeordneter einer winzigen Oppositionspartei für die Windenergie ein. Damals wies ihn der zuständige Minister scharf zurecht, daraus kein Argument gegen Atomkraft zu machen. In diese alte Rebellenrolle ist Kan zurückgeschlüpft.

Nach einer Reise zu Solar- und Windfarmen in Spanien und Deutschland predigte er sein neues Credo im Parlament, auch wenn nur 20 Abgeordnete kamen. Den größten Schlag gegen die Atomkraft hat Kan längst geführt: Seinen Rücktritt hatte er mit der Bedingung verknüpft, dass ein Fördergesetz für erneuerbare Energien verabschiedet wird. Ab Juli zahlt Japan deswegen die vermutlich höchsten Einspeisetarife der Welt, um schneller Abschied von der Atomkraft zu nehmen. MARTIN FRITZ