Erde, die erdet

FLUCHT Im Heilgarten des Zentrums für Folteropfer treffen sich Menschen aus vielen Ländern. Die Gartenarbeit ist Therapie: Sie überwinden, was war, und wenden sich der Zukunft zu

Die Vergangenheit ist für Katja Basalajowa eine riesige Last. Nur wenn sie im Garten Furchen zieht in den nicht sehr fruchtbaren Sandboden, fällt die Schwere von ihr ab

VON WALTRAUD SCHWAB

Wenn Katja Basalajowa* im Heilgarten des Behandlungszentrums für Folteropfer in Moabit Unkraut ausreißt, dann ist sie ihrem Zuhause in Tschetschenien am nächsten. Da will sie auch hin in Gedanken. Auf dem Weg zum Garten sah sie noch aus, als trage sie eine steinschwere Last. Dabei war es noch nicht einmal ein Rucksack, nein, nur eine bescheidene Stofftasche, die an ihrem Arm hängt. Kaum aber ist das Gartentor aufgeschlossen, zeigt sie auf den neu gepflanzten Apfelbaum, die Himbeeren, die Brombeeren – die hoffentlich irgendwann den ganzen Zaun überwuchern. Plötzlich wirkt die gedrungene Frau mit den dunklen, zusammengebundenen Haaren, durch die sich kein Grau zieht, leicht. Und jung. „Bei den Haaren komme ich nach meinem Vater“, sagt sie. Seine seien auch jetzt, mit über 80 Jahren, noch schwarz.

Basalajowa kommt aus einer Familie, in der man alt wird. Eigentlich. Ja, wäre da nicht der Krieg. „Meine Großmutter wurde 105.“ Die Mutter hingegen ist keine 72 Jahre geworden. „Sie ist an Krieg gestorben“, sagt die ehemalige Busfahrerin. Wie man in Westeuropa an Krebs stirbt, so sind viele in ihrer Familie „an Krieg“ gestorben. Nur ungern zählt die Tschetschenin auf: Mann, Mutter, Schwager, Neffe. Die Tochter der Schwester auch. Fast noch ein Kind.

Nach dem Leben greifen

Die Vergangenheit ist für Basalajowa eine riesige Last. Sie trägt sie in der Gegenwart mit sich herum. Nur wenn sie im Garten ihre Furchen zieht in den nicht sehr fruchtbaren Berliner Sandboden, fällt die Schwere von ihr ab. Der Heilgarten ist auf dem Gelände des abgewickelten Krankenhauses in Moabit – mitten in der Stadt. Dort ist auch das 1992 gegründete Behandlungszentrum für Folteropfer seit ein paar Jahren untergebracht. Wenn Basalajowa auf dem von großen Bäumen beschatteten Gelände vor den Beeten kniet, den Boden lockert oder Unkraut zwischen den Gemüsepflanzen herauszieht – gebückt, gebeugt zwar, aber zupackend –, dann wirkt diese Frau wie eine, die nach dem Leben greift. Immer wieder von vorne. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Gerade ist Sommer, da ist die Hoffnung groß.

Fragt man allerdings, ob Basalajowa die Tomaten und Paprika und Kartoffeln, die sie hier gesät hat, auch ernten will, hebt sie die Schultern. Eine ratlose Geste.

Vor fünf Jahren floh Basalajowa aus Tschetschenien. „Bis heute kommt dort die Gefahr“, sagt sie. Gefahr, das sind Soldaten, Milizionäre, Männern mit Waffen. Damals, als sie ging, hatte sie weniger Angst um sich. Bedrohter war ihre Tochter. Dafür gab es Gründe: Verhöre, Drohungen, Erlebnisse, über die sie noch immer kaum sprechen kann. Es hat die Resolutheit einer Mutter gebraucht, die von einem Tag auf den anderen entschied: Du und du und ich – wir fliehen. Die beiden du, das waren zwei ihrer fünf Kinder. Die Jüngsten, eine davon die besonders gefährdete Tochter. Die älteren drei? Sie weiß nicht genau, wo sie sind. Sie mussten fliehen. Sind irgendwo. Mit der einen Hand weist sie nach Osten. Mit der anderen nach Westen. Nur in Tschetschenien, da, wo sie herkommt, aus dem Kosakengebiet, das an Russland grenzt, da sind sie nicht.

Wie eine Schiffbrüchige

Basalajowa ist mit den Kindern in Berlin gestrandet. Wie eine Schiffbrüchige. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war. Man zahlt Geld und ist unterwegs. „Irgendwann steigt man aus.“ Während ihre Kinder bereit waren, in die neue Umgebung einzutauchen, blieb ihr das Fremde fremd. Als sie merkte, dass sie noch nicht einmal eine Sprache hat, in der man sie ohne Dolmetscher verstehen konnte, brach sie zusammen. Der ganze Schrecken.

„Wie der Schrecken aussieht und was Krieg wirklich bedeutet, das vergegenwärtigen wir uns meist lieber nicht“, meint Johanna Winkler, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Allgemeinmedizin im Behandlungszentrum für Folteropfer. Wenn man in Kellern lebt. Wenn Menschen verschwinden. Wenn vergewaltigt wird. Wenn man in einen zerstörten Garten kommt. Einen Stein aus dem Weg räumen will. Und merkt, es ist der Kopf eines Kindes. Winkler arbeitet in der Tagesklinik des Behandlungszentrums für Folteropfer. Dort werden Folteropfer und Kriegstraumatisierte betreut, die so schwer betroffen sind, dass eine ambulante therapeutische Versorgung nicht ausreicht. Basalajowa war ihre Patientin.

Die Tagesklinik hat 16 Plätze und ist ständig überbelegt. Insgesamt werden im Behandlungszentrum mehr als 500 Kriegs- und Folteropfer aus ungefähr 50 Nationen im Jahr betreut.

Vor fast fünf Jahren, als das Zentrum die Räume im ehemaligen Krankenhaus Moabit bekam, wurde auf dem Gelände auch der Heilgarten angelegt. Die Idee dahinter ist so simpel wie überzeugend: Gartenarbeit kann therapeutisch eingesetzt werden. Die Arbeit mit der Erde half Basalajowa, sich aus ihrer Agonie zu lösen. „Viele der Kriegstraumatisierten kommen aus ländlichen Gebieten oder hatten Gärten zu Hause“, sagt Winkler. Beim Gärtnern können sie das Wachsen und Vergehen beeinflussen. Sie wenden sich der Zukunft zu. Sie gestalten, sie handeln.

Ganz anders sind die Erfahrungen, die Leute in Gewaltsituationen traumatisiert: Wer gefoltert wird, wer schlimme Dinge im Krieg erlebt, der ist der Situation ausgeliefert, sagt die Ärztin. Traumatisierung, das ist Ohnmacht, die nicht mehr aufhört. Wenn sie am Tag noch beherrschbar ist, dann schleicht sie sich nachts in die Träume.

Im Heilgarten des Zentrums für Folteropfer treffen Menschen aus vielen Ländern zusammen – arabisch sprechende, russisch sprechende, afrikanische, kurdische. Manche möchten aus dem Garten eine Obstplantage machen, andere ein Kartoffelfeld. Kartoffeln helfen beim Überleben. Über Gartenarbeit verständigen sich die Leute selbst ohne gemeinsame Sprache. Basalajowa hat versucht, Deutsch zu lernen, aber sie kann sich nicht konzentrieren. „Ich bekomme nur Kopfschmerzen im Kurs.“

Jetzt hilft sie fast ohne Worte einer kurdischen Frau, ein Beet anzulegen. Obwohl helfen das falsche Wort ist. Vormachen, das trifft es mehr. Basalajowa zupft das Unkraut heraus und glättet die Erde mit Harke und Rechen. „Die Mädchen sagen: Ich weiß nicht, wie es geht“, sagt Basalajowa. Djewuschki – Mädchen nennen sich die gestandenen Frauen, die Schreckliches erlebt haben. Klein, hilflos, so begegnen sie jetzt der Welt. „Und die deutschen Behörden, das Ausländeramt, die behandeln diese Leute miserabel, die fördern die Hilflosigkeit“, empört sich Winkler.

Die Abschiebung droht

Wer lebensbedrohliche Ohnmacht erlebt hat, befinde sich – vor allem, wenn sein Aufenthaltsstatus ungeklärt ist – in einem fortwährenden Prozess der Retraumatisierung. Gerichtsprozesse, Polizeibeamte, drohende Abschiebung. Winkler findet, dass das zusätzlich schwer auszuhalten sei. Zumal diese Zumutungen alle im Namen des deutschen Volkes geschehen.

Auf der anderen Seite fanden schon die Gründer und Gründerinnen des Behandlungszentrums, dass der deutsche Staat durch die Unterzeichnung der UN-Antifolterkonvention verpflichtet ist, Folteropfer zu behandeln. Entsprechend wird das Behandlungszentrum teils mit Bundes- und EU-Mitteln finanziert. Mehr als 30 Prozent seiner Einnahmen allerdings kommen von privaten Spendern, von Stiftungen und Großunterstützern.

Mit Spendengeldern wurde im Heilgarten auch ein Schuppen aufgestellt, ein Grillplatz eingerichtet und ein Schrein, in dem Verstorbener gedacht werden kann. Dort steht, an einen Stein gelehnt, das Foto einer toten jungen Kurdin. Basalajowa wirft den Kopf zur Seite und zuckt mit den Schultern, als sie nach der Geschichte der Frau gefragt wird. Es ist eine wegwerfende Geste, die doch eine wissende ist. Die genaue Geschichte der Kurdin kennt sie nicht; die Geschichte, die diese Frau aber zum Opfer machte, die kennt sie genau. „Immer gleich“, sagt sie.

Auch wenn der Hintergrund, der die Menschen zusammenbringt, von Schrecken geprägt ist – im Garten geht es um Weltzugewandtheit, um Freude. Die bosnische Gruppe am Grillplatz verbreitet lebendigen Lärm. Für sie ist das Zusammensein wichtig. Für Basalajowa die Erde.

Seit die Leitung des Heilgartens in Moabit nicht mehr mit öffentlichen Geldern finanziert wird, ist Basalajowa in die Rolle der Obergärtnerin gerutscht. Sie zeigt, wie man sich mit der Natur, der Erde verbündet. „Ich hatte in Tschetschenien einen Garten, die eine Seite mit Obstbäumen, die andere mit Gemüse.“ Aprikosen, Birnen, Äpfel, Pflaumen. Gurken, Auberginen, Kürbis, Paprika, Tomaten zählt sie auf. Mit dem, was sie angebaut hat, hat sie den Krieg überlebt.

Wobei Überleben es nur halb trifft. Sie hat physisch überlebt, „aber mit explodierter Seele“, sagt sie. Vom Gefühl her ist sie in Fragmente zersprengt. Ein Fetzen in Berlin, einer in Tschetschenien, weitere Fetzen da, wo die anderen Kinder sind. „Wenn meine Kinder in Berlin wissen, wohin ihr Leben geht, gehe ich zurück“, sagt sie. So lange aber, solange sie noch bleiben muss, flickt sie die Fetzen ihrer Existenz irgendwie zusammen. Der Heilgarten hilft dabei. Er ist ihre Nabelschnur zur Vergangenheit, ihr Lebensfaden zur Gegenwart und ihre Hoffnung auf Zukunft. „Nur wenn ich hier bin, dann bin ich auch dort.“

* Name geändert