Fremde Kulturen am Main

VÖLKERKUNDE Die Ethnologie muss sich neu erfinden. Frankfurt plant ein unterirdisches Museum der Weltkulturen, doch viele Anwohner sind dagegen. Soll die Stadt das Museum für Verständigung erzwingen?

Frankfurt steuert auf einen lokalen Kolonialkrieg zu, der an frühere Kämpfe erinnert ums Westend, die Startbahn West und den Museumspark vor zwanzig Jahren

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Wer im australischen Canberra hügelan schreitet, befindet sich möglicherweise auf dem Dach des Parlaments. Das Gebäude, das die Demokratie nach englischem Vorbild repräsentiert, hat man in eine Anhöhe geschoben um anzudeuten, dass man die Natur achte und den Aborigines das Land nicht eigentlich habe wegnehmen wollen.

Die Ethnologie ist sich ihrer Sache nicht mehr ganz sicher. Vor zwei Jahren hat Karl-Heinz Kohl, Leiter des Frankfurter Frobenius-Instituts, seine Kollegen eingeladen, um zu diskutieren, ob das Fach überhaupt noch eine Zukunft habe. Die Meinungen gingen weit auseinander. Stammes- und Mentalitätsforscher wie Maurice Godelier und Karl-Heinz Kohl selbst, die ihre Erkenntnismodelle durch Feldforschung erst gewonnen haben, wollen am Urwesen der Völkerkunde auf jeden Fall festhalten, während die Jüngeren das Ende der großen Zeit gekommen sehen. Sie sind skeptisch.

Das gilt auch für das allgemeine Publikum, das im Verlauf seiner sentimentalen Erziehung heimlich zu dem Schluss gekommen ist, dass Hütten, Masken, Waffen und Grabbeigaben fremder Kulturen zu betrachten und zu bewundern eventuell nicht politisch korrekt sein könnte. Entweder weil sie am Ursprungsort etwas bedeuten, das man nicht verstehe, oder weil der Rezipient die Handelswege des Kolonialismus mit dem bösen Blick belegt hat.

Kulturen kennenlernen

Dagegen rüsten sich die Museen, indem sie behaupten, man müsse fremde Kulturen kennen, um sie zu schätzen, oder noch weitergehend, wie es im Katalog des neu gebauten Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln heißt, erst so könne man begreifen, dass sich alle Kulturen ebenbürtig seien. Die Völkerkundemuseen stehen vor der Wahl zu bleiben, wie sie sind – wie etwa das Pitt Rivers in Oxford –, dann werden sie zu Museen ihrer eigenen Geschichte. Oder sie erfinden sich neu, wie es in Paris und in Köln geschehen ist.

Vor einer noch schwierigeren Aufgabe steht Frankfurt am Main, weil das hiesige Museum seit mehr als hundert Jahren existiert, aber nie ein modernes Haus bezogen hat. Das Haus war das letzte in Hilmar Hoffmanns großem Projekt des Frankfurter Museumsufers. Es war bis in die zukünftige Präsentation komplett entwickelt und wurde dann, die deutsche Wiedervereinigung zog den Fokus ab vom Westen, in letzter Minute ohne Alternative gestrichen.

2010 bestellte man erstmals eine Direktorin für das Museum, die das berühmte „Andere“ der Ethnologie nur noch aus Büchern kannte; jedenfalls nicht aus dem „Feld“. Clémentine Deliss hat sich die Sache mit dem Bauen zu Herzen genommen. Sie hat selbst mit einem berühmten New Yorker Stadtsoziologen, einem Düsseldorfer Fotokunstmillionär und anderen in einer Jury gesessen, deren letzter Ratschluss offenbar von der Stadtpolitik dekretiert wurde. Denn noch bevor die Jury Preise vergeben konnte, äußerte Felix Semmelroth, der zuständige Kulturdezernent, das Museum würde unterirdisch gebaut werden. Die Jury prämierte darauf, wie längst berichtet, den Entwurf des jungen Architekten Johannes Kühn. Zufällig hatte er ein unterirdisches Museum vorgeschlagen.

Was die Stadtethnologen übersehen hatten, war der Stamm der Helveticer. So nenne ich jene widerspenstigen Leute, die nördlich und südlich des Schweizer Platzes wohnen, in einem Stadtteil, der früher oft vom Main überschwemmt wurde, als dieser noch nicht begradigt war. Ihre Stimmen, auch die meine, hat Deliss als bloße „Anwohnerperspektive“ abgetan.

Die Stadtcowboys konnten sagen, dass der Stamm der Helveticer den Bau des Museums selbst gefordert hatte, mit einer Liste von zweitausend Stimmen. Inzwischen aber zeigt sich, dass der gesamte Stamm mehr als sechstausend Mainindianer zählt. Der Autor gehört übrigens nicht zum Stamm; er sieht sich eher als ansässiger Beobachter. Mit Staunen sieht er, wie Frankfurt auf einen politischen Konflikt zusteuert, auf einen lokalen Kolonialkrieg, der an frühere Kämpfe erinnert, ums Westend, die Startbahn West und den Museumspark vor zwanzig Jahren, als Richard Meier darin bauen sollte. Der grüne Umweltdezernent Tom Koenigs wollte sich damals an die Rotbuche im Museumspark ketten, falls sie bedroht wäre. Jetzt regieren die Grünen mit; und sie fremdeln gegenüber den Helveticern, fleißigen Steuerzahlern, die das Demonstrieren erst einmal üben müssen.

Beim großen Cowboy-und-Indianer-Treffen bohrt Semmelroth den Daumen in die Wange und lässt wissen, er hätte den anderen Standort – das ehemalige Degussa-Gelände am Main, direkt gegenüber den jetzigen Museumsvillen – vorgezogen. Nach seiner Logik muss das ungeliebte Museum gebaut werden, weil es so weit geplant sei. Neben ihm Clémentine Deliss, die sich fragen lassen muss, warum der ehemalige Standort der Goethe-Uni, im Rahmen eines Kulturcampus, in der Nähe des Senckenbergmuseums ausgeschlossen sei: „Unser Museum hat mit ausgestopften Tieren nichts zu tun.“ Das Museum müsse unmittelbar am Main stehen, weil die kostbaren Objekte auf diesem Weg nach Frankfurt gekommen seien. Die Helveticer staunen über die simple Mythologie.

Der heutige Standort der Museen in den drei benachbarten Villen am Schaumainkai ist Zufall. Vielleicht aber auch Schicksal. Die Versuche und Pläne, in den Park hinein zu erweitern, sind über vierzig Jahre gescheitert, aus unterschiedlichen Gründen. Deliss’ Anspruch auf den Park wird den Helveticern nahegebracht als Ratschluss der Götter. Kurioserweise ist der Park in seiner heute sichtbaren Form erst zustande gekommen, als der private Garten einer der Villen zur Vorbereitung des Meier-Baus einverleibt und dabei ein Gutteil des uralten Baumbestands gefällt wurde. Die Helveticer sehen darin eine Opfergabe. Hier möchten sie in Ruhe ihre Terrier weiden.

Soeben hat in einer der Villen „Objekt Atlas“ eröffnet, die erste von der Direktorin selbst kuratierte Ausstellung. Bildende Künstler wie Antje Majewski, Thomas Bayrle und Simon Popper „forschen“ in der Sammlung des Museums und ergänzen sie durch eigene Werke, die zwischen plakativer Bebilderung und lyrischer Ergänzung pendeln. Sie sind bestellt worden, um eine Tautologie zu illustrieren: dass, wenn man Objekte aus dem Fundus herauslöst, um sie zu zeigen, sie etwas bedeuten.

Hilfreich ist allerdings die Erläuterung der nigerianischen Künstlerin Otobong Nkanga, wozu 25 Kilo schwere, nicht zu lösende Halskrausen gut waren: Um den Wert der Braut anzuzeigen. „Bei einem Überfall auf ein feindliches Dorf“, erläutert sie, „schnitten die Sieger einfach den Frauen den Kopf ab“, um die wertvollen Ringe mit nach Hause nehmen zu können.

Die Frage ist weniger, ob die unterdrückten Kolonialvölker von Frankfurt Süd recht haben; ob „Bäume“ wertvoller sind als ein Museum, das sich der Verständigung der Menschheit verschrieben hat. Die Frage ist vielmehr, ob sich die Kolonialherren Semmelroth/Deliss die Eroberung leisten können. Man hätte am Ende ein Museum unter der Erde ohne jegliche Verbindung zu den Villen, ohne signifikante äußere Gestalt, unter enormen Kosten versenkt im Schwemmland des Mains, wie er einst natürlich floss und überfloss. Bedenkt man das Margaretenhochwasser von 1342, dessen turmhoher Pegelstand am Eisernen Steg vermerkt ist, und die Entwicklung des Weltklimas zu plötzlichen und verheerenden Überschwemmungen, braucht man kein weissagender Cree zu sein, um das Museum inklusive seiner wertvollsten Bestände bald oder später komplett vernichtet zu sehen. Ob sich ein Eroberungskrieg dafür lohnt?

In die Stadtlandschaft

Es mag sein, dass die Grünen ihr Gedächtnis erst dann wiederentdecken, wenn gewisse Piraten ihnen dabei helfen. Für den Rest der Stadt aber sollte gelten, dass sie die Lehre aus der Geschichte nicht grundsätzlich von sich weise. Die Lehre besagt, dass ein Museum, das sich der Verständigung verschreibt, nicht gewaltsam in eine Stadtlandschaft geschoben werden kann, auch wenn es sich noch besser tarnt als das Parlamentsgebäude von Canberra, das immerhin an der Vorderseite als Gebäude zu erkennen ist.

Es wäre sinnvoll, den Plan jetzt aufzugeben im Tausch gegen eine konzertierte Vereinbarung, dass darin die Zusage für einen günstigeren Standort liege, wo ein umfangreicher Bau auch bezahlbar ist. Es liegt in der Natur von Kolonialherren, dass sie zu spät den Unsinn ihres Tuns einsehen. Der Schaden eines späten Scheiterns könnte sich als Totalschaden erweisen.

■ Ulf Erdmann Ziegler, Jahrgang 1959, lebt in Frankfurt am Main. Sein Roman „Nichts Weißes“ erscheint bei Suhrkamp im Herbst