Ein Garten ohne Bäume

Die alten Bäume sollen verschwinden. Bald wird es den Stuttgarter Mittleren Schlossgarten womöglich nicht mehr geben. Die Polizei plante nach Kontext-Informationen schon einen Großeinsatz für die Nacht zum 6. Februar, hat ihn jetzt aber auf Eis gelegt. Der Originalplan der Deutschen Bahn zeigt: Rot wird gefällt, gelb versetzt. Der Schlichterspruch von Heiner Geißler, Bäume zu versetzen, aber nicht zu fällen, diese Empfehlung ist keinen Pfifferling mehr wert. Vielleicht stoppt der Verwaltungsgerichtshof Mannheim die Arbeiten noch, wenn eine BUND-Eingabe Erfolg hat. Sicher ist aber: Das Abholzen der uralten Platanen trifft die Projektgegner ins Herz

von Sandro Mattioli

Es ist keine schöne Zeit in Stuttgart, in diesen Wintertagen. Die alten Bäume im Schlossgarten stochern mit kahlen Armen in den grauen Wolkenvorhängen, die über ihnen hängen. Die Sonne verbirgt sich hinter dem dichten Stoff, es ist frostig. Binnen kürzester Zeit kriecht einem Kälte unter die Kleidung. Nebenan, am Südflügel des Hauptbahnhofs, bereiten sich Bagger auf ihren Einsatz vor. Mit ihren mächtigen Zähnen werden sie das Gebäude wegbeißen, der Denkmalschutz hindert sie nicht daran. Und anderswo wird schon der Einsatz geplant, bei dem der Schlossgarten geräumt werden soll – von Protestierenden und von Bäumen. Die uralten, mächtigen, stolzen Gehölze werden gefällt, gehäckselt und weggebracht.

„Ich war am 30. September hier, als die Bäume, die auf dem Gelände dort standen, binnen kürzester Zeit geschreddert wurden“, sagt Freerk Valentien, eingemummelt in eine dicke Wolljacke, die grauen Haare unter einer tiefgezogenen Wollmütze verdeckt. Der 78 Jahre alte Senior spaziert durch den Park und ist vor einem grauen, kantigen Bau mit blauen, hochaufragenden Silos an der Außenwand stehengeblieben, dem Gebäude des Grundwassermanagements. Auf diesem Areal wuchs einst eine mächtige Platane, der Baum Nr. 552. Seit Jahrhunderten. Künftig wird hier das Wasser aus der Baugrube des Tiefbahnhofs umgewälzt werden.

Ein Gutachten hatte zwar gezeigt, dass der Juchtenkäfer in den Ästen der Platane heimisch ist, ein streng geschütztes Tier. Die Bahn als Bauherr von S 21 hatte dieses Gutachten jedoch zurückgehalten und den Baum am 1. Oktober 2010 gefällt. Einige Juchtenkäfer waren damals mitsamt ihrem Nachwuchs von einem Biologen geborgen worden, der Baum wurde geschreddert. Jetzt sollen die übrigen Bäume in diesem Teil des Mittleren Schlossgartens bald folgen. „Das ist ein würdeloser Umgang mit Holz“, klagt Valentien.

In Stuttgart ist Freerk Valentien vor allem als Galerist bekannt. Marc Chagall, Max Ernst, Georges Braque, Alfred Hrdlicka, große Namen hat er im Angebot. Bevor er den Betrieb auf der Gänsheide von seinem Vater übernahm, wollte Valentien jedoch Architektur studieren – und hatte deshalb eine Schreinerlehre begonnen. Sein Lehrbetrieb, die beim Milchhof ansässige Schreinerei Müller, hat die Schalter für die Expressguthalle geliefert, Valentien hat viele Teile davon im Südflügel montiert.

Wenigstens die Erinnerung soll bleiben

Noch heute arbeitet er gern mit dem Material Holz. „Wenn ich helfen kann, den Schlossgarten zu retten, tue ich es“, sagt er. Valentien ist einer der vielen Stuttgarter, die die Sorge um die Bäume auf die Straße treibt. Seine letzte Demonstration habe er in Berlin besucht, zum 1. Mai. Die Mauer stand damals noch nicht, es muss Ende der Fünfzigerjahre gewesen sein. Man zog vor das Rote Rathaus. Dann wählte er viele Jahre CDU. Jetzt ist die Mauer schon lange Geschichte, und Valentien geht wieder demonstrieren – gegen Stuttgart 21 und gegen die drohende Abholzung des Schlossgartens. Jede Woche, sagt er, besuche er die Montagsdemonstrationen. Und mit seinen Enkeln kommt er oft in den Park, damit sie sich einmal daran erinnern können, wie schön er früher war.

Die Pläne der Bahn sehen vor, den Teilbereich des Schlossgartens, dessen Bäume vom Juchtenkäfer bewohnt werden, mit einem dauerhaften Bauzaun zu umgeben. Freilich nicht an der Grenze des Aktionsradius des Käfers, sondern zum Teil sehr nah an den bewohnten Bäumen. Im Maßnahmenplan sollte dieser Zaun um das Juchtenkäfer-Habitat bereits ab dem 16. Januar gestellt werden. Sensoren an weiteren Bäumen sollen überwachen, dass die dort schlafenden Fledermäuse nicht gestört werden. Von dem Gelände des früheren Omnibusbahnhofs sollen sich die Fälltrupps dann in Richtung der Haltstelle Staatsgalerie vorarbeiten und den Schlossgarten abholzen. Zugleich wird der Bauzaun aufgebaut, der das Baugelände abschirmt. Die Bevölkerung soll das Areal aber weiterhin passieren können.

Und auch die Polizei wollte unter die Zaunbauer gehen: Nach Informationen der Kontext:Wochenzeitung sollten die Gitter für eine provisorische Abschrankung des Baugeländes im Schlossgarten in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar gestellt werden. Anschließend sollten diese Gitter durch einen festen Zaun mit einbetoniertem Fundament ersetzt werden. Diese Planung ist jetzt aber auf Eis gelegt: Die Polizei will abwarten, wie der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof entscheidet. In zwei anhängigen Verfahren geht es unter anderem um die Frage, ob die Bahn den Artenschutz ausreichend berücksichtigt bei ihren Planungen.

Geht es nach der Bahn, werden einige Bäume „entsprechend der Empfehlung des Dialogforums“ versetzt. In dieser noch von der Mappus-Regierung eingesetzten Runde wurde der Spruch des Schlichters Heiner Geißler abgeschwächt. Geißler hatte angekündigt, dass alle Bäume im Schlossgarten erhalten bleiben. Die Planung der Bahn sieht nun aber vor, 68 größtenteils kleinere Bäume zu versetzen. 108 Bäume, darunter viele uralte Großbäume, werden dagegen umgesägt.

Freerk Valentien macht das wütend, auch wenn er mit seiner Wut hinter dem Berg hält. Trotz seines ungewöhnlichen Vornamens – Freerk ist Ostfriesisch – ist er ein Urstuttgarter. Und in vielerlei Hinsicht typisch: gewiss kein Spinner, sondern ein Pragmatiker, wie es sie im Ländle häufig gibt. Und ein Schaffer. Andere in seinem Alter sind längst in Rente. Er sägt noch immer die Teile für die Sockel der Skulpturen in seinem Verkaufsgarten selber zurecht und schraubt die Holzteile zusammen. Er hat sich gut informiert über das Projekt, gegen das er demonstriert. Und er denkt in großen Zusammenhängen.

In zeitlichen Zusammenhängen zum Beispiel. „Meine Großmutter hat noch den König erlebt, wie er hier im Schlossgarten mit seinen zwei Spitzen an der Leine spazieren gegangen ist.“ Das einfache Volk habe nicht gewusst, wie man die Hoheit korrekt anspreche, berichtet Valentien, seine Oma habe einfach „Grüß Gott, Herr König“ gesagt. Er sei sehr bürgernah gewesen, der Herr König, und habe seinen Schlossgarten bewusst mit seinen Untertanen geteilt. In den 1930er-Jahren sei der Bahnhof das Wahrzeichen von Stuttgart gewesen. Für seine Galerie hat er einmal sogar den Beleg dafür angekauft: eine Postkartensammlung. Einige zeigten das Neue Schloss, ein paar weitere das Alte. Und der Großteil der Karten den Bahnhof. Nach dem Krieg kam Valentien oft mit seiner Großmutter in den Park, in seinen „Abenteuerspielplatz“. Er erinnert sich noch, wie er mit seiner Mutter einmal durch den Park ging, seinen Vater im Lazarett besuchen: ringsum Zerstörung, in den Büschen hausten Ausgebombte und Fremdarbeiter. Aber die Bäume durften nicht gefällt werden, obwohl es an allen Ecken und Enden an Wärme spendendem Brennholz fehlte.

Valentien denkt auch in räumlichen Zusammenhängen. Mehrere Zerstörungen Stuttgarts hat er miterlebt: als kleiner Bub während des Zweiten Weltkriegs, als englische Bomber die Stadt in Schutt und Asche legten. „Die Nachkriegszerstörungen waren aber auch verheerend“, sagt Valentien. Gewachsene Strukturen habe man zerstört, Schneisen durch die Stadt geschlagen, gewachsenes Stadtleben ausradiert, um Stuttgart zu einer autogerechten Stadt zu machen. Das hat ihn wachsam werden lassen. Jetzt, sagt er, droht die nächste Zerstörung.

Inzwischen ist der Schlossgarten, mehr als 600 Jahre alt, Eigentum des Landes Baden-Württemberg. Dort, wo heute die Oper steht, war einmal Parkgelände. Auch der Landtag und das Schauspiel sind früher Grünflächen gewesen. Und Straßen, die heute den Park durchschneiden. Auch unter einer grün-roten Regierung geht diese unrühmliche Geschichte weiter, nämlich dass die grüne Lunge im Herzen von Stuttgart weiter beschnitten wird, um bauen zu können. Allerdings wird der Park dieses Mal auch erweitert, wenn man den Plänen Glauben schenken darf, immerhin um zwanzig Hektar. Bis es so weit ist, wird die Stadt jedoch viele Jahre um eine Großbaustelle herumleben.

Ein Baustellenplakat verkündet gute Zeiten

Beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) weiß man seit einigen Monaten bestens, was es bedeutet, eine Großbaustelle in der Stadt zu haben. Direkt neben dem Büro des Landesverbands in der Marienstraße wurde eben erst ein komplettes Stadtviertel abgerissen. Jetzt erstreckt sich vor den großen Fenstern eine braune, matschige Fläche, eingerahmt von einer Raute aus asphaltierten Straßen. Ein großes Baustellenplakat – solche Bilderbuchbilder neuer Gebäude dürfen nie fehlen – verkündet gute Zeiten. „Es ist jetzt zwar schön hell hier“, sagt eine junge Mitarbeiterin der Naturschutzorganisation, die von ihrem Schreibtisch direkt auf die Mondlandschaft blickt, „aber es herrscht jeden Tag ein Riesenlärm.“ Der BUND hat zu einer Pressekonferenz geladen, vielleicht ist es die letzte ihrer Art. Vordergründig geht es um den Schutz des Juchtenkäfers, der Fledermäuse und des Hohltäubchens. In Wahrheit aber um die Frage, ob der BUND einen letzten Trumpf im Ärmel hat - oder nicht.

Als Brigitte Dahlbender, ehemals die Vorkämpferin des Aktionsbündnisses gegen S 21, und Berthold Frieß, der Landes-Geschäftsführer des BUND, die Pressekonferenz eröffnen, spürt man immer wieder die Vibrationen, die von der Baustelle nebenan und dazu noch vier Stockwerke tiefer kommen. Neben Dahlbender und Frieß sitzen Christine Fabricius, die Expertin des BUND für Artenschutz, und Tobias Lieber. Der junge Mann im eleganten Anzug kommt aus Freiburg und ist Anwalt – die beiden, Fabricius und Lieber, sind ein Zeichen dafür, dass man gegen Stuttgart 21 jetzt wohl nur noch mit rechtlichen Mitteln, das Naturschutzgesetz in der Hand, ankommen kann. Ein Gericht, der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, wird entscheiden, ob der BUND seinen letzten Trumpf ausspielen kann. Das ist ziemlich absurd bei einem Projekt, das mit jeder Menge Tricksen, Vertuschen und Verheimlichen vonseiten der Bahn zustande kam, aber offenbar nicht zu ändern.

„Wir werden einen Eilantrag gegen die Genehmigung des Eisenbahnbundesamts stellen und weitere rechtliche Schritte einleiten“, kündigt Brigitte Dahlbender an für den Fall, dass das Eisenbahnbundesamt die Rodung genehmigt, was prompt passiert. An einem Abend drei Tage zuvor hatte das Amt die Naturschutzorganisation aufgefordert, eine Stellungnahme zu den Artenschutz-Maßnahmen der Bahn zu senden, Frist: drei Tage. Eine „absolut unübliche und unverschämt kurze“ Frist, sagt Brigitte Dahlbender. Als dann auch noch durchsickerte, dass das Amt die Baumfällungen wohl genehmigen würde – zu einem Zeitpunkt, als die Frist noch gar nicht verstrichen, die Stellungnahme noch gar nicht beim Amt eingegangen war –, machte sich der Zorn beim BUND breit. Inzwischen liegt die Stellungnahme vor, und das Amt hat die Baumfällungen tatsächlich genehmigt. Der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim beschäftigt sich mit dem angekündigten Eilantrag des BUND.

Es geht immer um Etappensiege. Der BUND sieht Chancen, einen weiteren Sieg vor Gericht zu erringen. Der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim würde anderenfalls sein eigenes Urteil ad absurdum führen, sagen die Umweltschützer. Denn was wäre das für eine paradoxe Situation: Der Spruch des Gerichts zur Planung des Grundwassermanagements schützt am Ende Bäume, die für das Anlegen der Baugrube für den Tiefbahnhof schon längst gefällt worden sind. Posthumer Baumschutz? Das Projekt S 21 ist so reich an Absurditäten und Ärgernissen, dass auch dies nicht überraschen würde.

Ein solches Ärgernis ist jetzt untrennbar mit dem Namen Heiner Geißler verbunden, und der, den das am meisten ärgern dürfte, ist Geißler selbst. Es gab ein langes Schlichtungsverfahren, in dem Fakten diskutiert wurden, Lösungsvorschläge erarbeitet, in dem Frieden geschaffen werden sollte. Es gab unter der Regie des vom CDU-Hardliner zum CDU-Kritiker gereiften Politikers eine Präsentation der Ergebnisse des Stresstestes, der zeigen sollte, wie leistungsfähig der tiefergelegte Bahnhof ist – freilich gab es eine Vergleichsuntersuchung nie für den Kopfbahnhof. Es wurde also viel gestritten, und am Ende gab es eine brüchige Einigung, aber immerhin eine Einigung. Man kann den Schlichterspruch auf einer eigens angelegten Homepage nachlesen. Und sich dann wundern. Was ist nur aus alldem geworden, was damals unter dem Etikett Stuttgart 21 plus ausgemacht worden ist?

Die Vorgaben des Schlichterspruches sind präzise: Das frei werdende Gelände muss in eine Stiftung überführt werden, die nicht nur zum Zweck hat, eine Frischluftschneise für die Innenstadt zu erhalten, sondern auch, dass die übrigen Flächen „ökologisch, familien- und kinderfreundlich, mehrgenerationengerecht, barrierefrei und zu erschwinglichen Preisen“ bebaut werden. Die Gäubahn soll weiterbestehen. Und dann heißt es:

„Die Bäume im Schloßgarten bleiben erhalten. Es dürfen nur diejenigen Bäume gefällt werden, die ohnehin wegen Krankheiten, Altersschwäche in der nächsten Zeit absterben würden. Wenn Bäume durch den Neubau existenziell gefährdet sind, werden sie in eine geeignete Zone verpflanzt. Die Stadt sollte für diese Entscheidungen ein Mediationsverfahren mit Bürgerbeteiligung vorsehen.“

Auch das spielt heute keine Rolle mehr. Der Großteil der Bäume wird umgesägt. Vielleicht hatte Heiner Geißler, taktisch geschult und fit, damals, als er den Schlichterspruch formulierte, eine Ahnung. Aus seinem Spruch könne „keine rechtliche Bindung entstehen“, setzte er dem Papier voran, das Schlichtungsverfahren könne aber „eine psychologische und politische Wirkung“ haben. Aus heutiger Sicht liest sich das wie eine Prophezeiung. Und dann, am Ende des 15-seitigen Schlusspapiers, schreibt Geißler, er wünsche dem Stuttgarter Demokratiemodell eine weite Verbreitung in Deutschland. Heute dürfte er das nicht mehr so sehen