Im Wortsinn radikal

Denkbeschleuniger ohne Vergleich: „Auswertung der Flugdaten“, das letzte Buch des kürzlich verstorbenen Lyrikers Thomas Kling

VON NICOLAI KOBUS

Es stand zu befürchten, dass dieser Band sein letzter zu Lebzeiten sein würde. Anfang April ist der Lyriker Thomas Kling im Alter von gerade 47 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Kurz zuvor erschien ein neues Buch, dessen Titel in seiner Nüchternheit nun eine beinahe sarkastische Geste enthält: „Auswertung der Flugdaten“– das ist die gefundene Blackbox, deren Daten gedeutet, vielleicht jedoch erst einmal gelesen sein wollen: der letzte Band. Das letzte Band. Stimmenaufzeichnung.

Aber was für eine Stimme: „wie von polarfuchs heiseres gebell“. Schon die erste Serie, „Gesang von der Bronchoskopie“, schnürt einem beim Lesen den Brustkorb ein wie mit Draht. Thomas Kling spricht aus dem Hallraum der Lungenstation, vom „bahreliegen,/ unter heimeligem stammheimdeckenmond“, von den peinigenden Behandlungen, von Arnika und Vitriol und natürlich der nackten Angst.

Aber er tut es nicht als Hinfälliger, sondern selbst hier mit der ihm sehr eigenen Mischung aus Aggressivität und kalter, intellektueller Distanz; heiser vielleicht, aber präziser, schärfer, buchstäblich eindringlicher denn je. Die „Sondagen“, diese historischen und geologischen Tiefenbohrungen, mit denen Kling bisher das Material seiner Texte an die Oberfläche beförderte, finden jetzt am eigenen Körper statt: „wie man eintäufte in meine brust,/ rumfuhrwerkte darin und loren proben/ abtransportierten, nix von gemerkt ( frantic.“ Der Brustkorb wird zum Grubenschacht, die schmerzhafte Lungenspiegelung zur Einfahrt ins Bergwerk: „riss und schründe;// schacht und schicht.“ Dass einem dabei die Redewendung „Schicht im Schacht“ im Hals stecken bleibt, ist jenem beißenden Humor geschuldet, den Kling auch in früheren Texten immer punktgenau einzusetzen wusste.

Der folgende Zyklus „Mahlbezirk“ schließt unmittelbar an. Wieder geht es ins Innere. Schwarzweißfotos von Ute Langanky zeigen die Eingeweide einer verrottenden Mühle: die ausgetretenen Holzstufen, das Mahlwerk, den Stein, „getriebe innen.“ Kling sucht in den Bildern – oder in der Mühle selbst, das spielt keine Rolle, denn mediale Vermittlung ist bei ihm ständiger Teil der Wahrnehmung – nach dem, was die Ruine an Sprachsubstanz hergibt. Und er wird fündig: „ihre mühlensprache sprach sie: flüssig,/ in zerkleinerungsform./ sprach wie im rausch.“

Auch hier ein Reflex auf ältere Arbeiten. „morsch“ heißt ein Band von 1996. Das Wort teilt mit „mahlen“ denselben etymologischen Ursprung, und beide charakterisieren eine der grundlegenden Techniken Kling’scher Textarbeit, nämlich das „Zermahlen“ fester Fügungen, angewandt auf die Semantik bis in die Lautstruktur einzelner Wörter, wie auch auf Bildfolgen in der Segmentierung zur „Einzelbildschaltung“. Überhaupt dient das Kameraauge in einigen Gedichten zur jeweils nötigen Blickverengung („zoom“) oder -weitung („panorama“). Dann scheint ein Riss durchs Buch zu gehen. Ein längerer Essay unter dem Titel „Projekt ‚Vorzeitbelebung‘ “ begibt sich ins Gebiet der antiken Mythologie, ausgerechnet mit Hilfe zweier Mittelsmänner, die sich nicht leiden konnten und zunächst so gar nicht in den Sprachraum Klings passen wollen: der „Antikenverwalter“ des Jugendstils, Rudolph Borchardt, und der Binger „Voodoo-Priester“, Stefan George, mit dem Kling wenigstens die niederrheinische Herkunft teilt.

Aber eben nur scheinbar ein Riss, nur scheinbar unpassende Figuren. Das tertium comparationis sind die „Bakchen“ des Euripides, an deren Rekonstruktion sich Borchardt ein Jahrzehnt lang versucht hat. Was Kling an dieser Konstellation interessiert, ist dreierlei: die textliche wie personale Inszenierung der Antagonisten Borchardt und George, die Strategien der Verfügbarmachung antiker Stoffe und diese Stoffe selbst. Vor allem der in den „Bakchen“ geschilderte Dionysoskult mit seinen rasenden Mänaden, die gerne so manchen Mythenheld zerrissen. „Disiectio membrorum: die schamanistische Gliederverstreuung. Eben auch: Die Wortauswerfung.“ Wie im Vorbeigehen lässt Kling seine scharf gestochene Poetik fallen. In den „Botenstoffen“ von 2001 war der Essay noch eine mehr oder weniger separierte Gattung. Hier funktioniert er wie ein Mischpult, voll verkabelt mit dem Kling’schen Soundsystem; denn die übrigen Gedichte gehen weit zurück in die Geschichte bis zur Himmelsscheibe von Nebra („die gesichtete, gesichelte// gegnd in fetzn“) und den sibyllinischen Orakeln („ihre bereitschaft zur raserei“), aber alle auf demselben Träger, in ihrer Tonspur.

Das letzte Band. Der letzte Band. Stimmenaufzeichnung. Erst allmählich wird klar, wie exakt und detailbesessen dieser Band konstruiert ist. Die motivische Vernetzung über die Gattungsgrenzen hinweg, der zurückgedrehte Zeitpfeil, das kunstvoll beherrschte Rasen der „Schädelmagie“. Thomas Kling überfliegt noch einmal sein Gelände und lässt den Flugschreiber zurück: „so kam ich (/ kam ich unter./ so kam ich zum erliegen.“

Es ist bitter, dass mit diesem großartigen Buch ein Dichter das Schreiben einstellt, der schon bei seinen ersten Auftritten in den Achtzigerjahren eine singuläre Erscheinung war und es seitdem geblieben ist. Man sagt das so leicht hin, bei Kling war es tatsächlich der Fall. Wer es an den frühen Publikationen, „erprobung herzstärkender mittel“ oder „geschmacksverstärker“ (1985/86), noch nicht erkannte, dem wurde es spätestens bei Klings Bühnenauftritten deutlich. Das waren keine Lesungen, das waren eindrucksvolle Inszenierungen, „Sprachinstallationen“, wie er sie nannte, die adäquate Präsenz seiner Texte im akustischen Raum bei konsequenter Vermeidung jeglicher Form von Anbiederei. Und es zeigte Wirkung.

Kling hatte, was seine Arbeitsweise betraf, Einfluss auf etliche jüngere Autoren. Die Wahl der Stoffe, seine Montagetechnik, das Überblenden der Bildbereiche, der virtuose Umgang mit den unterschiedlichsten Tonlagen und Sprechhaltungen, vom angesägten Pathos bis zur lautschriftlich mitnotierten Umgangssprache, und vor allem die zwingend gründliche Materialrecherche als unbedingte Voraussetzung jeder ernsthaften Textarbeit. Immer selbstverständlich und im Wortsinn radikal, immer spröde, aber eingängig selten, moralisch, didaktisch gar nie. Lesen ist Arbeit. Ein Denkbeschleuniger ohne Vergleich. Epigonen hat er keine. Es ist unmöglich, ihm nachzuschreiben.

Thomas Kling: „Auswertung der Flugdaten“. Dumont, Köln 2005, 120 Seiten, 16,90 Euro