Die Milde vor dem Sturm

Gegen den Erwartungsdruck: William Forsythes Ballett „Three Atmospheric Studies“ in Frankfurt

Forsythe ist zurück, will sein Publikum aber nicht wirklich satt werden lassen

VON FLORIAN MALZACHER

Die ersten Schritte wie die Erkundung eines neuen Raums. Und gleichzeitig der Bogen zu einem früheren. Es ist Neuland, das die Tänzer der Forsythe Company nun nach und nach, allein oder zu zweit, trippelnd, tänzelnd, spielerisch betreten. Und ist es doch nicht. So wie sie selbst andere sind und doch nicht. Schließlich sind sie alle (bis auf einen Einzigen, der neu dazu gestoßen ist) auch schon früher oft genug im Frankfurter Bockenheimer Depot aufgetreten. Da hieß es noch Theater am Turm, und sie hießen Ballett Frankfurt.

Als im Frühjahr 2002 der Frankfurter Magistrat auf die Idee kam, das Ballett Frankfurt abzuschaffen und William Forsythe vor die Tür zu setzen, da war der Aufschrei in aller Welt groß. Wichtiger aber war, dass sich – anders als bei der ungefähr zeitgleichen Schließung des traditionsreichen TAT – einige Frankfurter Bürger vehement wehrten, Unterschriften sammelten, Webseiten schalteten und sich zum Verein „Freunde der Forsythe Company“ zusammentaten, um im Hintergrund Fäden zu ziehen und neue Konzepte zu entwickeln. Mit Erfolg: Ihr Engagement – und nicht das der kommunalen Politik, die bis zuletzt eher zum Jagen getragen werden musste – hat Forsythe schließlich für Frankfurt gerettet. Ihnen gelang es, die Länder Hessen und Sachsen sowie die Städte Frankfurt und Dresden zu überzeugen, eine neu zu gründende Forsythe Company als gemeinnützige GmbH zu unterstützen.

So entstand eine in dieser Form ziemlich einzigartige Public Private Partnership, also eine Zusammenarbeit von öffentlicher und privater Hand, deren jährlicher Viermillionenetat über einen vertraglich festgelegten Zeitraum von fünf Jahren zu drei Vierteln von den beteiligten Ländern und Städten, zu einem Viertel aus Sponsoren- und Gastspieleinnahmen der von fünfunddreißig auf achtzehn Tänzer verkleinerten Truppe kommt. Der Deal sieht je zwei Premieren und fünfundzwanzig bis dreißig Aufführungen in den beiden beteiligten Städten vor: In Dresden wird derzeit die legendäre Festspielhalle Hellerau mit ihrer Palucca- und Wigman-Tradition für diesen Zweck hergerichtet, in Frankfurt bespielt Forsythe, der letzte Intendant des TAT, das Bockenheimer Depot – und im Publikum sitzen neben denen, denen die Company maßgeblich zu verdanken ist, auch jene Politiker, die Forsythe unlängst noch möglichst unauffällig entsorgen wollten.

Die Erwartungshaltung ist dementsprechend groß, doch Forsythe weiß solchen Druck längst durch Beiläufigkeit zu unterspielen– nach dem Harald-Schmidt-Prinzip: Wenn ihr am meisten von mir erwartet, mache ich das, was ich immer mache – nur etwas weniger.

So beginnt der erste Teil des neuen Abends „Three Atmospheric Studies“ auch wie nebenbei: Als Atmosphäre, die durchtanzt, durchlaufen, durchspielt wird; das Betasten eines alten, neuen Raumes. So sehr Forsythe im Vorfeld schwankte, ob die Company nun als Neuanfang zu bezeichnen sei oder als Fortsetzung der alten Arbeit unter veränderten Umständen: die Symbolik ist klar. Neuland. Eine Schrift im Hintergrund des schlichtgrauen, galeriehaften Raums liefert das eindeutige Stichwort: „dawn“, Morgendämmerung. Das raffinierte, schattenfreie Licht Spencer Finchs, der mit Neonröhren ein phänomenales Lichtkonzept entwickelt hat, hüllt alles in die diffuse Helligkeit einer frühmorgentlichen Waldlichtung. Neuanfang.

Doch zitiert dieses Bild zugleich auch das Alte, die letzte Arbeit des Ballett Frankfurt, als die Tänzer in „We live here“ wie Zwerge in einem Märchen durch den dunklen Wald liefen und mit fiepsigen Stimmen staunend sich die Wege wiesen. „Look, here!“, piepst es auch diesmal.

Es ist ein sehr zärtliches Stimmungsbild, das Forsythe in diesem ersten Teil von seiner Kompanie zeigt, während die sphärischen Klänge von David Morrow etwas nervend plakativ in einen irrealen Raum verweisen. So luftig, kaum greifbar die Solos und Duos sind, werden sie durch sporadisch auftauchende Beschreibungen im Hintergrund immer wieder interpretiert: „His last afternoon as himself.“ Ein Spiel mit Bedeutungen.

Die Berührungen der Tänzer in ihren Benetton-haften bunten Hemdchen sind flüchtig, nur manchmal scheinen sich in dieser abstrakten, schattenlosen Lichtung Bedrohungen zusammenzubrauen. Dann sagt die geheimnisvoll leuchtende Schrift im Hintergrund: „As if nothing dangerous were circling overhead“, und die hohen Sphärentöne bekommen etwas bedrohlich „Psycho“-haftes. Es ist ein Abend, dem man, so präzise und geradezu perfekt er auch gesetzt ist, sein Entstehen aus der Improvisation anmerkt. Daher rührt seine Leichtigkeit, daher rührt aber auch die leichte Untersättigung, die bleibt. Die freundliche Milde, die „Three Atmospheric Studies“ ausstrahlen, hinterlässt einen hungriger, als man war.

Der zweite Teil ist intensiver, auch theatralischer – allein schon durch die immens gestische Musik, die Thom Willems live aus den Geräuschen der Tänzer wie Donnergrollen generiert. Hatte der erste Teil etwas Schwere- und Zeitloses, bricht nun die Bewegung massiv in die Szene: Was mit der Beschreibung einer sehr dramatischen Turner-Gemäldewolke beginnt (die genauso gut die Beschreibung einer Choreografie sein könnte) endet in dem Landschaftsbild nach einem Inferno: Reiseführerhaft werden nicht sichtbare Brocken von Hochhäusern gezeigt, herumliegende Gebrauchsgegenstände, auch Knochen und Körper, während die Tänzer miteinander zu ringen, zu kämpfen scheinen, bevor sie durcheinander gewirbelt werden, zu Boden fallen.

Aus der unbesorgten Leichtigkeit der Morgendämmerung des ersten Teils, in die sich bereits die ersten Wölkchen schoben, ist zumindest die Ahnung eines Sturm geworden. Forsythe ist zurück. Aber richtig satt sind wir noch nicht geworden.

Weitere Aufführungen: 23. bis 25. 4., 4. bis 7. 5., 10. bis 14. 5.