Weiter kämpfen

Wer eine Politik auf Augenhöhe will, muss das Votum einer Volksabstimmung akzeptieren: Das sagt die grüne Landtagsabgeordnete Muhterem Aras in ihrer Erwiderung auf den Stuttgarter Schriftsteller Wolfgang Schorlau

Ununterscheidbar Nein, eine ehrliche Regierung kann nicht gegen das Ergebnis einer Volksabstimmung handeln. Es war einer CDU-Regierung in Hamburg vorbehalten, die Meinung von 76,8% der Abstimmenden eines Volksentscheids (bei einer Wahlbeteiligung von 64,9%) zu ignorieren. Man muss aber auch nicht unbedingt in eine Regierung eintreten, deren Juniorpartner zu den windigen Befürwortern eines noch windigeren Großprojektes gehört. Man hätte zum Beispiel auf die Futtertröge der Macht verzichten und die SPD in eine Koalition mit der CDU schicken können, damit sie sich dort weiter selbst dezimiert. Das hätte für klare Verhältnisse gesorgt. Aber vielleicht kehrt auch so Klarheit ein: über die bürgerliche Ununterscheidbarkeit der Grünen. B. Oehler

Unsäglich! Die Zeilen von Frau Aras sind kaum zum Aushalten – NEIN, Frau Aras, Sie haben vor der Volksabstimmung eben nicht alles getan umd S21 zu verhindern! Es war seit der Wahl keinerlei Taktik bei Grünen erkennbar – nichts. (…) Kein einziger Punkt des Schlichterspruches ist umgesetzt und was macht ihr? (…) Und was macht der MP? Stellt sich hin und faselt was von Geißlers Alleingang, der nicht abgesprochen worden wäre. Geht's noch? (…) Leistungsfähigkeit Kopfbahnhof – warum musste das Gutachten privat (auch von mir!) beauftragt und finanziert werden! Das habt ihr völlig verpennt! Und als es da war, hat es niemanden von euch interessiert. (…) Wären die Grünen noch in der Opposition, hättet ihr wahrscheinlich das Gutachten machen lassen und würdet weiter über die Mischfanzierung wettern usw. (…) Kein Mensch auf dem Land mit dem ich gesprochen habe, weiß etwas von schrägen Bahnsteigen, vom Fast-Weltkulturerbe-Status des Bonatzbaus (und darauf könnten Land und Stadt wirklich stolz sein) und davon, dass der heutige Bahnhof mehr Züge abwickeln kann – das HAUPTARGUMENT. (…) NEIN – Frau Aras, Kretschmann wollte den Volksentscheid nicht gewinnen, er opfert den Bahnhof um regieren zu können. Vielleicht ist es auch die Taktik der Grünen, die Unfähigkeit der Bahn aufzuzeigen um dann am Ende doch noch als Gewinner dastehen zu können. Nur, bis dahin wird unglaublich viel zerstört sein – aber das nehmt ihr in Kauf. Für mich gilt ganz klar – nie wieder grün. Nicht, weil die Volksabstimmug verloren wurde, sondern weil ihr davor eben so gut wie gar nichts getan habt um diesen Mistbahnhof zu verhindern – und das verzeihe ich den Grünen nie. ThomasNeuhaus

Betrug Unsere demokratische Verfassung ist toll! Aber eine Mehrheitsentscheidung, die zum wesentlichen Teil auf Betrug basiert (siehe „Stresstestbetrug“ und Kostenverschleierung bzw. -falschrechnung) hat äußerst wenig mit freiheitlich rechtsstaatlicher Demokratie zu tun! Um aus diesem Dilemma heraus zu kommen, gibt es eine ganz simple Möglichkeit: Die oben genannten Betrugsvorwürfe unverzüglich transparent und umfassend aufklären. Dies liegt definitiv in der Macht unserer Landesregierung. Lassen sich die Vorwürfe zweifelsfrei widerlegen, so gilt der Volksentscheid. Andernfalls hat S 21 nichts mit Demokratie zu tun und ist zu stoppen. ConText

von Muhterem Aras

Die Volksabstimmung haben die Grünen verloren. Ziel war es, Stuttgart 21 zu verhindern. Auch ich bin enttäuscht und verstehe die Emotionalität, die Enttäuschung und Hilflosigkeit. Die Grünen sind seit den Kommunalwahlen stärkste Fraktion im größten Rathaus des Landes und Baden-Württemberg hat den ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands! Das war eine Sensation! Selbstverständlich nahmen wir an, das ginge so weiter. Vielleicht haben wir uns zu lange in unseren eigenen Kreisen bewegt, haben uns von den Montags- und Samstagsdemos blenden lassen und die S21-Befürworter unterschätzt. Während wir verzweifelt Züge gezählt haben und die bessere Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs beweisen wollten, haben die Befürworter die Bürgerinnen und Bürger wider besseres Wissen mit den 1,5 Milliarden Euro hohen Ausstiegskosten geschockt.

Wir haben alles getan, um die Bürgerinnen und Bürger zu überzeugen, dass S 21 nie ein „bestgeplantes und bestgerechnetes“ Projekt war, sondern ein großer Murks, der auch zwanzig Jahre nach Planungsbeginn nicht besser, sondern täglich schlechter wird. Wir werden überall die Finger in die Wunden legen. Das ist keine Oppositionspolitik, wie uns die Befürworter vorwerfen. Wir wollen die Fehler schonungslos zeigen. Die Realität ist manchmal hart und zum Verzweifeln. Trotzdem – ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, weiter zu arbeiten und zu kämpfen. Aufgeben werde ich nicht. Den Gefallen werde ich den S21-Befürwortern nicht tun. Dafür mag ich diese Stadt zu sehr. Schuld an dem Fiasko um S 21 sind nicht die Grünen, sondern die Deutsche Bahn, die sich genau wie die CDU nicht an den Schlichterspruch hält und ihre massiven Probleme bei der Planung und dem Bau von S 21 nicht in den Griff bekommt.

Vereinzelt wird uns vorgeworfen, wir hätten die Kritik eingestellt und den Kontakt zu unseren Wählern verloren. Tatsache ist, S 21 kostet die Grünen nach wie vor viel Zeit und Energie. Möglicherweise wird dies zu wenig kommuniziert. Das Kabinett hat einstimmig beschlossen, am Kostendeckel von 4,526 Milliarden Euro fest zu halten und keinen Cent mehr als 930 Millionen Euro Landeszuschuss auszugeben. Dabei bleibt es!

David hat gegen Goliath verloren

Auch mir platzt manchmal fast der Kragen, aber von Anfang an war klar, dass wir als Demokraten das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptieren müssen. Die erste Volksabstimmung in Baden-Württemberg ist ein großer Gewinn für die Bürgerinnen und Bürger, die mehr mitentscheiden und mitbestimmen und nicht nur alle vier oder fünf Jahre ihr Kreuzchen machen wollen. Ich halte es für bedenklich, wenn Volksabstimmungen von den Gegnern nun für unsinnig erklärt werden. David hat diesmal gegen Goliath verloren. Manchmal gewinnt auch David – trotz des unangemessenen Briefes eines OB oder der Million eines Regionalverbandes. Es waren die Bürgerinnen und Bürger, die sich mit 58,9 Prozent gegen den Ausstieg des Landes aus der Projektfinanzierung von S 21 ausgesprochen haben, während 41,1 Prozent dafür stimmten. Die Konsequenz der Volksabstimmung ist der Bau von S 21. Das Volk ist der Souverän. Jetzt von der grün-roten Landesregierung zu verlangen, sie solle sich über die Volksabstimmung hinwegsetzen und „was“ tun, wäre ein höchst undemokratischer Akt, den der Ministerpräsident zu Recht in seinem Brief an die Parkschützer als „Gesinnungsdiktatur“ bezeichnet hat. Es gibt Kritiker, die jetzt das Ende der grün-roten Koalition fordern. Und dann? Käme es wahrscheinlich zu einer anderen Koalition, die dann da weitermachen würde, wo Schwarz-Gelb aufgehört hat – ohne jede Kritik.

Sicher haben die Grünen ihren sensationellen Erfolg zu einem großen Teil dem Protest gegen S 21 zu verdanken. Aber wo standen wir vor einem Jahr? Die Umfragewerte waren Ende Februar 2011 so, dass es wieder für Schwarz-Gelb gereicht hätte. Das muss man ganz klar sehen! Dann kam Fukushima und plötzlich war alles anders. Die Bundeskanzlerin machte in der Atompolitik die Rolle rückwärts, Schwarz-Gelb reklamierte für sich die Erfindung des Atomausstiegs, und ruckzuck wurden zwei der schlimmsten Atomkraftwerke im Südwesten abgeschaltet. Bis dahin unvorstellbar! Aber das hat Schwarz-Gelb alles nichts geholfen. Der Atomausstieg ist das urgrüne Thema, und vielen bis dato Nicht-Grün-Wählern war klar geworden, dass eine ehrliche und nachhaltige Politik in Sachen Atomausstieg und erneuerbare Energie nur unter Federführung der Grünen möglich ist. Die Umfragewerte stiegen täglich und am 27. März hatten die Grünen einen Sitz mehr als die SPD.

Winfried Kretschmann hat von Anfang an eine Politik „auf Augenhöhe“ versprochen – und gehalten. Er wollte vermeiden, dass es einen großen und einen kleinen Koalitionspartner gibt. Die SPD hatte im März 2011 ihr schlechtestes Ergebnis bei den Landtagswahlen seit Jahrzehnten. Mir ist die Vasallentreue der SPD zur CDU in der Unterstützung von Stuttgart 21 nicht verständlich (zumal es bei den Mitgliedern viele S21-Gegner gibt), denn „Hauptsache, der Bagger rollt und es gibt Arbeitsplätze“ ist zu kurz gedacht. Welche erbärmliche Qualität die Arbeitsplätze haben können, hat man kürzlich gesehen, als bei Zollkontrollen etliche illegal Beschäftigte bei den Arbeiten am Südflügel aufflogen. Das örtliche Handwerk wird noch öfters in die Röhre schauen oder freiwillig die Segel streichen (wie Wolf + Müller), weil es die Verantwortung, die die Bahn ihr aufs Auge drücken will, nicht tragen kann.

Keine Kreide gefressen

Wir sollten uns von dem Ausgang der Volksabstimmung nicht wieder den Blick vernebeln lassen. Wolfgang Schorlau hat Recht, wenn er sagt, dass die verlorene Volksabstimmung paradoxerweise die Basis der Grünen in Baden-Württemberg gestärkt hat. Es waren mehr Ja-Stimmen als Grünen-Wähler bei der Landtagswahl (1.507.961 Ja-Stimmen gegenüber 1.206.182 Grünwählern bei der Landtagswahl). Ja, lieber Wolfgang Schorlau, wir werden das Potenzial nicht verspielen! Weder der Ministerpräsident noch der Verkehrsminister „haben Kreide gefressen“, sie halten sich lediglich an die demokratischen Spielregeln. Aber niemand kann uns Grüne hindern, laut und deutlich unser Missfallen über S 21 zu äußern. Winfried Kretschmann hat dies in den beiden offenen Briefen der letzten Tage sehr deutlich gesagt.

Neben S 21 und der Energiepolitik gibt es noch andere grüne Themen. Ich habe für den Landtag kandidiert, weil ich mich daran beteiligen will, die Bildung sozial gerechter zu machen. Deutschland ist in Sachen Bildungsgerechtigkeit das Schlusslicht in Europa. Vor vierzig Jahren schon forderte der Deutsche Bildungsrat Reformen, die damals politisch nicht gewollt waren, u. a. deshalb, weil die CDU krampfhaft am dreigliedrigen Schulsystem festhielt. Wir wollen diese Strukturen aufbrechen und eine bessere Bildungsgerechtigkeit realisieren. Bildung ist, neben der Energiewende und der nachhaltigen Mobilität, die größte Herausforderung unserer Zeit. Jedes Kind muss individuell gefördert werden, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Nur wenn es uns gelingt, das Individuum zu fördern, kann sich die Gesellschaft entwickeln. In einer gut gebildeten Gesellschaft werden Integration und die Sicherung des wirtschaftlichen Wohlstandes gelingen.

Erste Schritte waren die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung, die Abschaffung der Studiengebühren und die Einrichtung von 35 modellhaften Gemeinschaftsschulen. Das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern wird Bestandteil des Bildungsangebots dieser Schulen sein. In der Ganztagsschule werden wir besseres Lernen, auch von sozialen Kompetenzen, in einem rhythmisierten Unterricht flächendeckend nach Bedarf verwirklichen. Die Grünen haben, anders als die CDU, erkannt, dass sich die Bedürfnisse der Familien auch in dieser Hinsicht geändert haben. Immer mehr Eltern wünschen sich für ihre Kinder eine ganztägige Betreuung, auch in den Kindertagesstätten. Der CDU fällt dazu nur die „Herdprämie“ ein.

Politik des Gehörtwerdens

Viele Schüler und Eltern fühlen sich mit der Verkürzung des Gymnasiums von neun auf acht Jahre nicht wohl. G8 soll nicht abgeschafft werden, aber wir nehmen die Signale aus der Bevölkerung ernst. Das gehört zur Politik des Gehörtwerdens. Wichtig ist uns vor allem, dass der Druck von den Schülern genommen wird. In den kommenden beiden Schuljahren starten als Versuch neunjährige Züge an 44 Gymnasien.

Mit der Anhebung der Grunderwerbssteuer erhalten die Kommunen endlich die ihnen zustehende finanzielle Unterstützung zum Ausbau der frühkindlichen Betreuung. Die 366 Millionen Euro Mehreinnahmen gehen ohne Umwege in die Kommunen: 15 Millionen Euro in die Schulsozialarbeit, 25 Millionen Euro für das Landeswohnprogramm, 11 Millionen Euro für die Sprachförderung und 315 Millionen Euro für den Ausbau der Betreuung der unter 3-Jährigen. Allein für Stuttgart heißt das ein Plus von 30 Millionen Euro für die frühkindliche Betreuung.

Der Volksentscheid ist kein Freibrief für die Bahn

Die Grünen in Stuttgart wünschen sich als nächstes Stadtoberhaupt einen grünen Oberbürgermeister. Wenn es der Bahn trotz der massiven selbstverschuldeten Probleme gelingen sollte, S 21 umzusetzen, ist es wichtig, einen grünen OB zu haben, der das Gemeinwohl und die Interessen der Stadt im Blick hat. Der Volksentscheid ist kein Freibrief für die Bahn! Stuttgart braucht einen Oberbürgermeister für alle Bürgerinnen und Bürger. Die 41 Prozent der Stadtgesellschaft, die mit JA gestimmt haben, dürfen nicht unter den Tisch fallen! Gemeinsam mit der SPD werden wir dafür kämpfen, dass der Chefsessel im größten Rathaus des Landes nicht wieder von einem CDU-Kandidaten besetzt wird. Die Kreisverbände sind auf einem guten Weg. Wählen und damit bestimmen, wer die nächsten acht Jahre die Geschicke der Landeshauptstadt bestimmt, muss jedoch der Souverän. Ich bin überzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger wissen, was für sie und die Stadt richtig ist.

Muhterem Aras, geboren 1966 in Anatolien, hat in Hohenheim Wirtschaftswissenschaften studiert und war lange Jahre als Grünen-Politikerin im Stuttgarter Gemeinderat. 2011 errang sie mit 42,5 Prozent ein Direktmandat im Wahlreis Stuttgart I und zog in den baden-württembergischen Landtag ein.

Den nächsten Debattenbeitrag, in dem das Traumatisierende von S 21 überwunden werden soll, schreibt die Soziologin Annette Ohme-Reinicke.