Das Madeira des Nordens

So lange ist das nicht her, dass sich alle Welt in Bad Rehburg traf. Der Gesundheit wegen und des Vergnügens halber. Nachdem die Quelle versiegte, sind dem niedersächsischen Kurbad neben der Erinnerung noch Deutschlands einzige historische Kuranlagen aus der Zeit der Romantik geblieben

Von Achim Beinsen

Umrahmt von bewaldeten Hügeln liegt etwa 40 Kilometer westlich der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover das „Madeira des Nordens“: Bad Rehburg. Im 18. und 19. Jahrhundert ein mondäner Badeort, der König, Adel und wohlhabendem Bürgertum Erholung und Amüsement bietet.

Von der „eigenthümlich feuchtwarmen Luft“, die vollständig dem Klima auf der vielbesuchten Insel Madeira gleiche, schwärmt 1868 der Autor eines Reiseberichts. Es sei ein Naturwunder, derart weit im Norden ein so friedlich stilles Tal zu finden, schreibt der namentlich nicht bekannte Verfasser.

Geblieben ist das milde Klima und die einzige in Deutschland erhaltene Kuranlage aus der Epoche der Romantik. Seine Entstehung verdankt der Badeort zwischen Hannover und dem Schaumburger Land einer Quelle mineralhaltigen Wassers. Immer mehr Menschen werden im 18. Jahrhundert von den Berichten über deren heilende Wirkung angelockt. Viele von ihnen „haben nechst Gott beständig ausgesagt … von dem Gebrauch dieses Wassers ihre Gesundheit wieder erlanget zu haben“, berichtet der Rehburger Pastor Crome. Seit 1752 fördert das hannoversche Königshaus den Ausbau der Kuranlagen.

Eine mehrwöchige Kur besteht seinerzeit aus dem regelmäßigen Trinken des Quellwassers und ein bis zwei Vollbädern täglich. In Dampfbädern und Gemeinschaftssaunen wird geschwitzt. Außerdem kommen Duschbäder und kalte Güsse zur Anwendung. Nach dem Bad ist Ruhe verordnet. Mindestens eine Stunde muss der Gast im Bett verbringen. Daran soll sich ein Spaziergang im Freien anschließen. Das Flanieren in der Natur gehört zur Heilprozedur.

Die Entdeckung der heilsamen Wirkung mineralhaltigen Quellwassers verbindet sich in den Kurbädern mit einer enthusiastischen Naturverehrung. Adel und wohlhabendes Bürgertum prägen diesen Wesenszug der Romantik. Das Spazierengehen kommt in Mode. Durch Alleen, Gärten und Fontänen wird das Landschaftsbild auch in Bad Rehburg nach den romantischen Vorstellungen jener Zeit gestaltet. Der englische Landschaftsgarten dient dabei als Vorbild. Die wie zufällig zwischen Bäumen und Pflanzen, Wäldchen und Auen verlaufende Wegführung entspricht den Idealen einer ursprünglichen Natur.

Heilsame Quellen, die Schönheiten der Natur und rauschende Feste locken im 18. und 19. Jahrhundert Erholungssuchende in die überall entstehenden deutschen Kurorte. Zu den großen „Kurfans“ gehört Johann Wolfgang von Goethe, von dem auch eine Art Badeordnung überliefert ist. „Beim Baden sei es erste Pflicht, dass man sich nicht den Kopf zerbricht, und dass man nur studiere, wie man das lustige Leben studiere“, schreibt der Dichter im Jahr 1802 über die Freuden der Entspannung.

Bad Rehburg gehört eher zu den kleineren Kurbädern der Epoche. Voll Bewunderung schreibt jedoch der Schriftsteller Heinrich Christian Boie (1744-1806) über den Ort: „Rehburg würde bald Pyrmont an Schönheit übertreffen, wenn es erst Mode wäre, dahin zu gehen.“

Der „Gesundheyt wegen und des Vergnuehgens halber“ kommen die Menschen in den Badeort, vermerkt der königliche Gartendirektor im Jahr 1803. Zu den Vergnügungen zählen nicht nur die Bäder und Trinkkuren. Abends wird lange und ausgiebig gefeiert. Ärzte beschweren sich darüber, dass Kranke den Zweck der Kur ganz verfehlen würden, wenn diese auf „üppige Tafeln“ und Tanz bis in die Nacht hinein ausgedehnt werde.

Sehen und gesehen werden ist das Motto im Kurort. Viele Gäste erhoffen sich ein „galantes Abenteuer“, und so manche Heirat wird während des Aufenthaltes angebahnt. Die Kur bietet Gelegenheit, dem reglementierten Leben für einige Wochen zu entfliehen. Abends tanzen die Frauen in prächtigen und schweren Kleidern. Manche weiblichen Kurgäste erscheinen anderntags zum Frühstück in Anstoß erregender allzu leichter Bekleidung. Dann werde die Betreffende „von allen Seiten her so sehr für Erkältung gewarnet, dass sie nie wieder so transparent erscheinen mogte“, gibt der Rehburger „Brunnenarzt“ Dr. Lentin im Jahr 1803 zu Protokoll.

Um das Jahr 1840 herum beginnt die Rehburger Quelle langsam zu versiegen. Die Bäderanwendungen werden drastisch reduziert. Bohrungen nach neuen Quellen bleiben erfolglos. Die Leitung des Kurbades muss nach neuen Geschäftsquellen suchen. Dem Beispiel des bayrischen Kurortes Bad Kreuth folgend, werden fortan Molkekuren durchgeführt.

Das bitter-süßliche Getränk soll vor allem gegen Erkrankungen der Atmungsorgane wirken. Um die Molkeversorgung zu sichern, wird eigens für das Kurbad eine Ziegenherde angeschafft. Statt Quellwasser müssen die Kurgäste nun täglich mehrmals ein Glas Molke zu sich nehmen. Nicht alle mögen allerdings das Gebräu. Viele Kurgäste schätzen eher das Nebenprodukt der Molkeherstellung: einen mit Kümmel angereicherten Ziegenkäse.

Aufgrund des vielgepriesenen milden Klimas und der Molkekuren entwickelt sich Bad Rehburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Kurort für Atemwegserkrankungen und Tuberkulose. Die Einrichtung kann auf Dauer jedoch nicht mit den nahe gelegenen Badeorten Nenndorf, Eilsen und Oeynhausen konkurrieren, in denen bis heute die Heilquellen sprudeln. Als zu Beginn der fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wirkungsvolle Medikamente gegen Tuberkulose entwickelt werden, die längere Sanatoriumsaufenthalte überflüssig machen, endet in Bad Rehburg der Kurbetrieb.

Im Jahr 1954 richtet sich ein Altenheim in den historischen Gebäuden ein. Nachdem auch dieses Heim in den siebziger Jahren in einen Neubau umgezogen ist, stehen die alten Bauten leer. Bäume und Gestrüpp überwuchern die beiden Badehäuser und die Wandelhalle. Die Holzveranden sind morsch, der Putz blättert von den Gebäuden.

Obwohl der kunstgeschichtliche Wert der Anlage von Denkmalschützern schon in den siebziger Jahren erkannt wird, scheitert die Restaurierung lange an fehlenden Investoren. Gute Ideen für eine neue Nutzung bleiben aus.

Im Jahr 2000 entschließt sich die Stadt Rehburg-Loccum endlich zur Rettung der Anlagen. Das „alte Badehaus“ aus dem Jahr 1753 ist bereits Ende der neunziger Jahre abgerissen worden. Offiziell heißt es, dass die Bausubstanz „nicht mehr sanierbar“ gewesen sei. Restauriert werden jedoch das „neue Badehaus“, erbaut im Jahr 1786, und die Wandelhalle, fertiggestellt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Im Frühjahr des Jahres 2003 können die Arbeiten in Bad Rehburg mit finanzieller Hilfe des europäischen Tourismusförderprogramms sowie von Banken und Stiftungen abgeschlossen werden.

Die ehemaligen Kuranlagen dienen seither der Kunst und der Information. In der Wandelhalle befindet sich ein Café und Restaurant: Muße und Genuss haben hier wieder ihre Adresse. Im großen Saal der Wandelhalle werden Konzerte und Lesungen veranstaltet.