BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Ich bin ordentlich, na und?

Im Sozialismus wurde ich zur Ordentlichkeit erzogen. Im Westen muss ich mich ständig dafür rechtfertigen. Das nervt

„Mensch, ist das aufgeräumt bei dir!“ Diesen Satz muss ich mir oft anhören, wenn ich zu Hause Besuch von Westlern habe. Oder: „Das ist ja so ordentlich hier!“ Dabei schwingt ein Vorwurf in ihren Stimmen mit, den ich verwende, wenn es irgendwo wie Sau aussieht.

In einer Mischung aus Entsetzen und Faszination blicken sie auf meine Regale, in denen die Bücher in Reih und Glied stehen und keine Staubschicht die Titel verdeckt. Auch die Holzfußböden, die immer schön glänzen und nicht mit Rotwein und Essensresten verklebt sind, und den großen Esstisch, der nicht unter Bergen von Papier und Müll zusammenbricht, finden sie bedenklich. Die Blicke, die sie mir zuwerfen, signalisieren Mitleid. Und sie geben mir zu verstehen, ich sei nicht ganz richtig im Kopf, nicht ausgelastet oder zumindest seltsam veranlagt. Jedenfalls total uncool.

Hiermit stelle ich einige Punkte für alle bisherigen und alle zukünftigen Besucher aus dem Westen klar, die mit meinem Ordnungssinn Probleme haben: 1. Niemand zieht bei mir zu Hause die Schuhe aus. Ich hasse das. 2. Ich habe keinen Putzfimmel. Ich bin nur ganz fix beim Durchwischen. 3. Ich bin ganz normal und einfach nur ordentlich. Und das auch noch gerne.

Ausgesucht hab’ ich mir das nicht unbedingt. Ich wurde zur Ordnung erzogen. Als Kind dachte ich, dass mein Vater das Wort Ordnung erfunden haben muss. Meine Erinnerungen an die ersten Familienurlaube handeln von Reisegepäck, das sofort bei der Rückkehr ausgepackt und alles an seinen Platz geräumt werden musste.

Auch die Schule war ein Hort der Ordnung. Waldorfschulen, in denen schlampige Schüler kreativ genannt wurden, gab es nicht. Ich wuchs mit Kopfnoten für Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung auf. Gleich in der ersten Klasse am Oberschulkombinat bekam ich für meine Ordnung eine Eins, also „sehr gut“. Ebenso in der zweiten Klasse, in der die Lehrerin der Schülerin Bärbel zudem bestätigte: „Die Ordnung ihres Arbeitsmaterials ist vorbildlich.“ In der dritten Klasse wurde mir zusätzlich zur Note Eins ins Zeugnis geschrieben: „Ihre Heftführung ist sauber.“

So ging das weiter, bis ich im ersten Halbjahr der siebten Klasse plötzlich auf eine Zwei absackte, bei der es auch im zweiten Halbjahr blieb. In der Gesamteinschätzung heißt es, dass ich durch meine „offene, ehrliche Haltung als Gruppenratsvorsitzende Vorbild“ sei und dass meine „hervorragende Arbeit bei der Gestaltung der Schulwandzeitung lobenswert ist“. Kritisiert wurde ich nur dafür, dass ich noch lernen müsste, „auf angebrachte Kritik sachlicher zu reagieren“. Der Ordnungsbegriff war anscheinend so weit gefasst wie meine Klappe groß war.

Aber in der achten Klasse kehrte ich auf den Pfad der Ordnung zurück und bekam wieder ein „Sehr gut“, das ich bis zur zehnten Klasse hielt. Später, auf der Erweiterten Oberschule, gab es die Kopfnoten nicht mehr. Sie waren überflüssig geworden. Längst war die Ordnung in Fleisch und Blut übergegangen.

Daran hat sich nichts geändert. Außerdem will ich keine Schlampe sein. Ich gehöre zu denen, die sich an den Spruch halten „Ordnung ist das halbe Leben“, und nicht zu denen, die darüber rätseln, woraus die andere Hälfte besteht. Ich habe nur keine Lust, mich ständig dafür zu rechtfertigen.

Aber so nach und nach scheinen sich auch einige Westler neu zu orientieren. Neulich las ich von einer bahnbrechenden Erkenntnis des Kommunikationsdesign-Professors Peter Wippermann, Trendforscher aus dem Westen, über Deutsche und ihre Gärten: „In den Gärten ist wieder Ordnung eingekehrt, wild sprießendes Unkraut als Zeichen unverstellter Natürlichkeit ist nicht mehr gefragt. Wo früher Freiheit für das Unkraut der Schlachtruf war, wird heute die Heckenschere angesetzt.“

Ja, ja, so sind sie, die Westler. Immer von einem Extrem zum andern. Es reicht doch vollkommen aus, wenn ich in meinen vier Wänden auf Anhieb für Gast und Gastgeberin dringend benötigte Dinge finde. Wie eine zweite Flasche Rum oder Kondome. Das ist die Ordnung, die ich meine.

Fragen zu Ordnung? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN