Geflüsterte Abschiedsbriefe

NAZISPIELFILM Nach einem Geheimreport von Ernst Jünger drehte Volker Schlöndorff „Das Meer am Morgen“ (Panorama)

VON KIRSTEN RIESSELMANN

1941 im von den Deutschen besetzten Frankreich: In Nantes wird ein deutscher Offizier von Kommunisten erschossen, Hitler will Rache. 150 internierte Franzosen sollen als Vergeltungsmaßnahme hingerichtet werden, unter anderen 27 Kommunisten aus dem kleinen Lager Choisel. Diesen 27, unter ihnen der erst 17-jährige Guy Môquet, widmet Volker Schlöndorffs „Das Meer am Morgen“ die meiste Zeit. Das Leben zwischen den Baracken wird mit kräftigen, vitalen Bildern zunächst recht heiter skizziert – Wettrennen, Honigmelonen, Flirts durch den Zaun –, dann erfahren die zum Tod Bestimmten von dem über sie verhängten Schicksal. Lange wandert die Kamera von Gesicht zu Gesicht, während Abschiedsbriefe geschrieben werden, aus denen flüsternde Stimmen aus dem Off vorlesen.

Ein parallel montierter Erzählstrang verfolgt den Prozess der Verfertigung der Liste mit den Namen der Todgeweihten. Ein Exempel, wie der bürokratisch fundierte Terror der Nazis ins Werk gesetzt wird: Die Willkür des Todesbefehls mündet in der für Amtsstuben handhabbaren „Logik“ der Kriterien für die Selektion zum Sterben.

Besonderes Augenmerk legt der Film auf die Figur Ernst Jünger, der auf Geheiß eines Generals ein geheimes, „literarisches“ Protokoll der Ereignisse rund um die Morde angefertigt hat, das prominente Quelle für Schlöndorff war. Klett-Cotta hat die Schrift „Zur Geiselfrage“ pünktlich neu ediert.

In einem dritten Erzählstrang geht es um einen jungen Wehrmachtssoldaten, der zum Erschießungskommando gehören wird. Dessen Figur hat Schlöndorff einer wahrscheinlich autobiografischen Erzählung von Heinrich Böll entliehen und mit aller künstlerischen Freiheit in die historischen Geschehnisse einmontiert. Richtig gut an diesem Film ist eigentlich nur, wie fast unerwartet schonungslos die Schlussszene passiert. Alles andere ist leicht angekitschte standard operating procedure in Sachen Nazizeitfilm – extrem sympathische Opfer, extrem unterschiedlich sympathische sowie ambivalent sympathische Täter, vereinfacht in Feigheit.

Unangenehm ist vor allem, wie sehr man dem Film Schlöndorffs Freude über die Quellenlage anmerkt, die es erlaubt, gleich drei prominente literarische Figuren in einer Geschichte engzuführen. Mit Jünger, Böll und Môquet als Pfund – Môquets Abschiedsbrief steht seit 2007 verpflichtend in den französischen Lehrplänen – bewirbt sich dieser Film offensiv als Unterrichtsstoff in Merkozyland.

Aber ist es angemessen, dem grausamen, sinnlosen Sterben von Menschen nachträglich einen solchen Sinn angedeihen zu lassen? Ihren Tod als pädagogisch wertvollen Beitrag zur éducation sentimentale von Oberstufenschülern zu erzählen? Oder ob das nicht doch schlicht anmaßend ist, mit der Frage kommt man aus dem Kino.

■ Heute, 17 Uhr, International