Im Bild wohnen

SELBSTEXPERIMENT Ein Raum, eine Künstlerin, ein Malmarathon. Yvonne Andreini verwandelt in einer viertägigen Performance kahle Wände in ein Kunstwerk

Die Angst vor dem weißen Blatt Papier ist unter Künstlern weit verbreitet. Denn das strahlende Weiß birgt zwar einen Pool von Möglichkeiten, aber gleichzeitig die Gefahr, darin zu versinken. Auf ihm können Ideen lebendig werden oder zerknüllt im Papierkorb landen.

Damit das nicht passiert, braucht es nicht nur Talent, sondern auch höchste Konzentration. Ablenkungen jeglicher Art sind Gift für den künstlerischen Schaffensprozess.

Um diesen Störungen zu entgehen, hat sich die Künstlerin Yvonne Andreini eingesperrt. Vier Tage lang lebt und malt sie in einem mit weißem Papier ausgekleideten Raum im Mitte-Offspace Espace Surplus.

Für 96 Stunden möchte sie die Umwelteinflüsse, die täglich auf sie einströmen, einfach mal draußen lassen: zurückgeworfen sein auf sich und das Weiß des Papiers.„Es ist ein Experiment mit mir selbst“, sagt die 26-jährige Italienerin, die seit acht Jahren in Berlin lebt.

Sie will durch die räumliche und zeitliche Selbstbeschränkung gerade das Gegenteil erreichen, nämlich ein von Ablenkungen befreites Arbeiten.

Blassgrauer Strich

Bei diesem Versuch kann man der Malerin seit Dienstagabend zuschauen. Um 18.14 Uhr tauchte Andreini vor den Augen einiger Zuschauer den Pinsel in schwarzes Tuschwasser und startete ihre Performance mit einem langen, blassgrauen Strich. War die Künstlerin zuvor noch sehr gesprächsfreudig, konzentrierte sie sich nun vollkommen auf das zu füllende Weiß.

Schnell übertrug sich diese Versunkenheit auf das Publikum. Neben leiser Jazzmusik, die sich Andreini zum Malen ausgesucht hatte, war nur das Kratzen des Pinsels auf der Leinwand zu hören. Jede ihrer Bewegungen wurde gespannt verfolgt.

„Kunst ist Geheimnisverrat“, sagte der Schriftsteller Karl Valentin einmal. Doch Andreini präsentiert nicht nur das fertige Kunstwerk, sondern verschafft Einblick in dessen gesamten Entstehungsprozess. Man kann jeden noch so kleinen Klecks sehen, sie bei jeder falschen Linie ertappen. Der Zuschauer entwickelt dabei so selbstgefällige Gedanken wie „Oh, da würde ich jetzt aber doch noch ein bisschen mehr Schwarz nehmen.“ Er meint erspüren zu können, wenn ein Strich weniger motiviert gesetzt ist. Zugleich fühlt er sich dem Werk stärker verbunden, er möchte wissen, wie es weitergeht. Denn der Betrachter ist Teil dessen, was dort entsteht. Er befindet sich mitten im Raum und daher mitten im Bild. Wie die Künstlerin selbst.

Farben und Formen

Andreini, die an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Freie Kunst studierte, vertraut nicht nur bei diesem Projekt vor allem auf ihre Intuition. Wenn sie zu malen beginnt, ist da meist nur eine grobe Ahnung. Erst im Prozess fügen sich Farben und Formen zu einem Gemälde zusammen. „Ich möchte, dass eine Art Kommunikation zwischen mir und dem Bild entsteht. Denn das Bild ist für mich etwas Eigenständiges. Das bin nicht ich.“ Wahrscheinlich ist es genau diese Einstellung, die Andreini die Angst davor nimmt, dass ihre viertägige Performance missglückt. Wenn sie Samstag um 21 Uhr den Pinsel niederlegt, ist Scheitern nur eines von vielen möglichen Ergebnissen. ANDRIN SCHUMANN

■ Yvonne Andreini: 96 hours drawing performance im Espace Surplus, Linienstraße 131, 24. 2. 15–20 Uhr und 25. 2. 15–21 Uhr