Dramen auf grünem Tuch

Die Snooker-WM haben sich auch in diesem Jahr rund sechs Millionen Engländer im TV angesehen. Doch auch abseits der Insel findet die Königsdisziplin des Billards mittlerweile eine Menge Beachtung

AUS SHEFFIELD SUSANNE BURG

Die Wellen schlugen am Wochenende hoch im altehrwürdigen Crucible Theater, in dem sonst Shakespeare und Tschechow aufgeführt werden. „Daraus könnte man einen Hollywood-Film machen“, rief etwa Snooker-Profi und BBC-Kommentator John Parrott entzückt aus und meinte damit den steilen Aufstieg eines Spielers, den vor Beginn der Snooker-Weltmeisterschaft niemand auf der Rechnung hatte. Shaun Murphy, 22 Jahre alt, 48. der Weltrangliste und bis zu diesem Jahr sieglos im Crucible, spielte sich bis ins Finale hoch und schoss auf dem Weg dorthin gleich drei Weltmeister aus dem Turnier. Einer von ihnen: Snooker-Legende Steve Davis, für den Shaun als Kind noch stundenlang vor dem Crucible Theater ausgeharrt hatte, um ein Autogramm von seinem Helden zu ergattern. Die Besten der Welt trafen sich seit Mitte April in Sheffield. Die Besten heißen Ronnie O’Sullivan, Stephen Hendry, Paul Hunter oder Jimmy White und sind Briten. Diese Königsdisziplin des Billards, die britische Offiziere im 19. Jahrhundert im fernen Indien erfanden, ist Volkssport in England. Sechs Millionen Amateure liefern sich regelmäßig Kämpfe auf dem vier mal zwei Meter großen Tisch mit den 22 Kugeln und sechs Taschen; ebenso viele Zuschauer sitzen jedes Jahr bei der WM-Übertragungen der BBC vor den Fernsehern.

Doch auch die Beliebtheit im Ausland ist stetig gewachsen. Im vergangenen Monat verfolgten 100 Millionen Chinesen, wie ihr 18-jähriger Landsmann Ding Junhui bei den China Open den großartigen Schotten Stephen Hendry besiegte. Und Eurosport Deutschland hat die Snooker-Einschaltquoten im vergangenen Jahr um 25 Prozent auf 700.000 steigern können. Das Spiel auf dem grünen Tuch gehört damit zu den fünf beliebtesten Sportarten des Senders – obwohl es bisher keinen deutschen Star gibt. „In Zeiten, wo es gerade im Fernsehgeschäft immer hektischer und schneller zugeht, gibt es offensichtlich auch ein Bedürfnis nach etwas anderem“, erklärt Eurosport-Kommentar Rolf Kalb die Faszination dieser Billard-Variante. „Und Snooker befriedigt dieses Bedürfnis. Außerdem stellt es für mich eine ideale Kombination dar. Die Spieler müssen große feinmotorische Fähigkeiten mitbringen, eine sehr große mentale Stärke und taktische Finesse. Und Snooker produziert immer seine kleinen und größeren Dramen, die sich dann zu einem einzigartigen Spannungsbogen verdichten.“

Dramen gab es bei dieser Weltmeisterschaft mindestens ein halbes Dutzend. Am spektakulärsten war wohl das Schauspiel, das Peter Ebdon und Favorit Ronnie O’Sullivan im Viertelfinale darboten. Der zweifache Weltmeister O’Sullivan gilt als Mozart am Snooker-Tisch. Er ist schnell, wild, genial – und unberechenbar. Wenn er gut spielt, scheint er förmlich um den Tisch zu fliegen. Mit größter Leichtigkeit locht der 29-Jährige aus Essex dann die Kugeln, mal links-, mal rechtshändig ein. Ronnie „the rocket“ (Rakete) hat die fünf schnellsten „maximum breaks“ in der Geschichte des Sports gespielt. Bei einer solchen Maximalaufnahme (147 Punkte) räumt der Spieler in einem Zug die 15 roten und 6 andersfarbigen Kugeln ab, spielt abwechselnd eine rote Kugel (1 Punkt), die in der Tasche bleibt, und eine schwarze (7 Punkte), die wieder aufgebaut wird. Wenn sich alle roten Kugeln in den Taschen befinden, werden die farbigen (gelb 2 Punkte, grün 3, braun 4, blau 5, pink 6, schwarz 7) in aufsteigender Reihenfolge gelocht. 1997 brauchte Ronnie O’Sullivan dafür, wovon die meisten nur träumen können: sechs Minuten und zwanzig Sekunden.

Im Viertelfinale der WM zermürbte Peter Ebdon O’Sullivan indem er sich Zeit ließ. Viel Zeit. Der studierte Altphilologe und Hobby-Pferdezüchter brauchte sechs Minuten, um fünf Kugeln zu lochen. Nach und nach verlor O’Sullivan vor laufenden Kameras die Fassung. Er hielt sich die Hände vors Gesicht, zerkratzte sich die Stirn und fragte einen Zuschauer nach der Uhrzeit. Die Rakete verglühte und Peter Ebdon gewann 13:11. Ebdons Verhalten hielten Kritiker für hart an der Grenze zur Unsportlichkeit. Beim Sport gehe es um Rhythmus, schrieb ein Journalist, und keiner komme in den Groove, wenn der Gegner ständig die Musik ausstelle.

So standen sich im Finale (bei Redaktionsschluss noch nicht beendet) keine Stars, sondern der etwas beleibte Sheffielder Lokalmatador Shaun Murphy und der „Welsh Dragon“ genannte Matthew Stevens gegenüber. Maximal 35 Sätze standen für die beiden in dem zweitägigen Finale an – ein kleiner Marathon, der sich alleine am ersten Tag fast sechs Stunden hinzog.