Aufruhr in Schwedens Flüchtlingspolitik

Die Ausländerbehörde stoppt die Ausweisung sogenannter „apathischer Kinder“ und fordert von der Regierung neue Richtlinien. Denn nach Abschiebungen funktionierte die vorgesehene medizinische Betreuung überhaupt nicht

STOCKHOLM taz ■ Schließlich hat sogar die oberste Ausländerbehörde gestreikt. Am vergangenen Freitag stoppte sie die Ausweisung weiterer Familien mit sogenannten „apathischen Kindern“ und forderte von der Regierung neue Richtlinien. Dass die eigene Behörde die Gefolgschaft verweigert, ist vorläufiger Höhepunkt des Streits um Schwedens Flüchtlingspolitik. Der hatte sich zuletzt vor allem an der Behandlung von Familien mit Kindern mit der Diagnose „depressive Devitalisierung“ entzündet. Diese liegen teilweise wochenlang nur noch apathisch in ihren Betten, essen oder sprechen nicht mehr und haben sich vollständig in sich zurückgezogen.

Im vergangenen Jahr wurde erstmals Alarm geschlagen, nachdem der Jugendpsychiater Göran Bodegård eine Studie über das Symptom des „partiellen Funktionsverlustes“ veröffentlicht hatte. Dabei wurde klar, dass es neben den von Bodegård beschriebenen 5 Fällen apathischer Flüchtlingskinder weitere 150 im ganzen Land gab. Sie kamen meist eher zufällig in Behandlung. Denn Betreuungspersonal oder Eltern verstanden irgendwann, dass nicht körperliche Krankheit, sondern Hoffnungslosigkeit sich hinter den Depressionen, Essstörungen, Aggressivität und dann nur noch Passivität verbarg.

Seither gibt es einen Streit, ob diesen Familien und ihren Kindern spezielle Behandlung im Asylverfahren zukommen soll. Die Regierung sagte Nein und verordnete der Ausländerbehörde, nach üblicher Einzelfallprüfung notfalls Abschiebungen vorzunehmen – ohne Rücksicht auf die Kinder. Eine gerichtliche Kontrolle kennt Schwedens Ausländerrecht nicht. Die wird erst 2006 eingeführt. Bis dahin ist die Ausländerbehörde zugleich letzte exekutive wie juristische Instanz. Seit Oktober 2004 wurden 70 Familien mit ihren apathischen Kindern abgeschoben.

Der jetzige Schwenk der Ausländerbehörde hat drei Gründe. So wurde vergangene Woche ein neuer Bericht über apathische Kinder veröffentlicht. Er enthüllt, dass deren Zahl inzwischen über 400 beträgt. Und mehrere Abschiebefälle machten deutlich, dass vermeintliche Sicherungen, die für die weitere gesundheitliche Versorgung apathischer Kinder nach der Ausweisung aus Schweden eingebaut worden waren, nicht funktionierten. So zeigte eine Reportage in Stockholms Dagens Nyheter, dass ein im November mit seiner Familie abgeschobener Junge aus Weißrussland jetzt in einer Wohnung in Sankt Petersburg mit den gleichen Symptomen wie in Schweden liegt – nur ohne ärztliche Versorgung.

Der Hauptgrund, warum die Ausländerbehörde nun die Notbremse zog, dürfte aber der gewachsene öffentliche Widerstand sein. Zu Jahresbeginn bildete sich ein „Netzwerk Flüchtlingsamnestie 2005“ aus politischen, kirchlichen und anderen Organisationen. Im Reichstag versuchte eine Initiative, die von den Grünen und der Linkspartei bis zu Christdemokraten und Liberalen reichte, eine Amnestie für Familien mit apathischen Kindern durchzusetzen. Sie scheiterte zwar an der Mehrheit aus Sozialdemokraten und Konservativen, doch im März schlossen sich erstmals die protestantischen, katholischen und orthodoxen Kirchen zu einem „Osteraufruf“ gegen die Flüchtlingspolitik zusammen. Der protestantische Erzbischof sprach von einem „fast verschwundenen Asylrecht“ und segnete ausdrücklich das Verstecken abgewiesener Flüchtlinge ab. REINHARD WOLFF