Die Nacht, in der ich Konsensmilch trank

GLEICHZEITIGKEIT UND ÜBERFORDERUNG Knapp 160 Aufführungen in vier Tagen auf elf Bühnen: Am Wochenende fand das Theaterfestival 100 Grad Berlin zum neunten Mal statt. Notizen von einem Kunstmarathon

Ich switchte von Aufführung zu Aufführung, nur eine Off-Taste gab es nicht

VON ANDRIN SCHUMANN

Ich bin schon durch Geschäfte, Straßen oder den Alltag gehetzt, aber noch nie durch Theaterstücke. Bis zum letzten Wochenende – auf dem 100 Grad Berlin, dem vierten langen Wochenende des freien Theaters. Im Stundentakt fegten jeden Abend bis zu 35 Inszenierungen über die Bühnen des Hebbel am Ufer und der Sophiensaele. Neben Drama und Komödie gab es Tanz, Performances und Installationen zu entdecken. Ausgerüstet mit ausreichend Koffein und Turnschuhen, stürzte ich mich in den Theatermarathon.

Eine meiner ersten Begegnungen war die mit einem Telefon. Es lag im Foyer des HAU 1 auf ein rotes Samtkissen gebettet, daneben ein Taschentuch mit Lippenstiftabdruck und dem Text „Call me!“. Ich wählte die angegebene Nummer und landete bei einer angenehm tiefen Frauenstimme, die mir Songs statt Sex bot.

Wenig später lernte ich in dem Stück des musiktheater bruit! die unzähligen Klangarten des Rauschens kennen und stellte fest, dass Stille nur eine Illusion ist. Der smarte Alleskönner Arthur Cravan nahm mich mit auf eine happeningartige Reise durch sein Leben. Ich sah das tragische Ende einer Lovestory mit Bertolt Brecht und eine männliche Julia im silbrig glänzenden Astronautenanzug sterben. Ich lauschte dem Akkordeonspiel eines ja!-Männchens und trank Konsensmilch.

Vor allem aber rannte ich, und zwar hin und her. Zwischen HAU 1, 2 und 3. Wenigstens diese örtliche Begrenzung hatte ich mir auferlegt, um nicht völlig entscheidungsunfähig dazustehen. Relativ schnell stellte sich eine Art Fernbedienung-Feeling ein: Ich switchte von Aufführung zu Aufführung, ging eher, kam später, nur eine Off-Taste gab es nicht. Ich war auf Stückejagd. Und jedes Mal, wenn ich mich in das Dunkel des Zuschauerraumes setzte, hoffte ich, dass mich diese Inszenierung zum Bleiben zwingt, dass sie es schaffe, den Konsumrausch kurzzeitig zu stoppen.

Gerade diese ständige Gleichzeitigkeit und latente Überforderung machen das 100-Grad-Festival aus. Der Zuschauer hat die Chance, sehr vielen, unterschiedlichen Vorstellungen von Theater innerhalb sehr kurzer Zeit zu begegnen. Doch nicht nur die Darstellungsformen der gezeigten Stücke sind äußerst verschieden, sondern auch deren Qualität. Das liegt unter anderem daran, dass es für die Inszenierungen des 100 Grad keine Auswahlkriterien gibt. Die Bewerber müssen lediglich formale Anforderungen erfüllen: etwa eine Aufführungslänge von höchstens 60 Minuten. Ansonsten gilt: Wer zuerst kommt, spielt zuerst. So entsteht der wundertütenartige Charakter des Festivals: Oft ist es Glückssache, ob einem gefällt, was man sieht.

Sprungbrett zur Karriere

Auch auf der produktiven Seite des Festivals spielt Glück eine große Rolle: Für unbekannte Theatermacher kann sich das 100 Grad zum Sprungbrett in die eigene Karriere verwandeln, denn unter den Zuschauern sitzen Dramaturgen und Regisseure, auf der Suche nach Nachwuchs. Das mag ein wichtiger Grund dafür sein, dass das Berliner Festival immer internationaler wird. In diesem Jahr waren Produktionen aus Dänemark oder Italien im Programm. Außerdem gab es durch die Zusammenarbeit mit dem Kana Teatr Stettin drei polnische Künstler auf der Bühne zu sehen.

Auch thematisch spiegelt das 100 Grad Berlin die aktuellen Entwicklungen der freien Theaterszene wider. In diesem Jahr bildeten Musikproduktionen einen Schwerpunkt. Waren um 24 Uhr alle Stücke gelaufen, konnte man sich zur Party ins Wirtshaus WAU begeben oder aber die Meinung von Theaterexperten hören. Die sogenannten Mitternachtssprecher diskutierten einige der Aufführungen vor Publikum – leider ohne dieses mit einzubeziehen.

Obwohl der Schlafmangel im Laufe der vier Festivaltage akut wurde und meine Konzentrationsfähigkeit allmählich nachließ, blieb die Neugier auf noch mehr Neues bis zuletzt. Wahrscheinlich lag das an der offenen und lockeren Stimmung. Man musste keinesfalls Theaterexperte sein, um sich auf diesem Festival wohl und angemessen unterhalten zu fühlen.

■ Andrin Schumann war Redaktionsmitglied von 100Wort, der unabhängigen Zeitung des 100 Grad Festivals.

■ Die Gewinner des diesjährigen 100 Grad Berlin spielen im März noch einmal im HAU und den Sophiensaelen. 100grad.wordpress.comn