Kameradschaft Knast

Dass er seine Leute mit Luftdruckpistolen trainieren ließ, stellte er als Cowboyspiel dar

AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG

Der große Unbekannte. Der hätte Martin Wiese vielleicht noch raushauen können. Falls es ihn denn gibt. Der große Unbekannte ist nach Angaben des Münchner Neonazi-Chefs Wiese ein unbescholtener Bürger der ehrbaren Gesellschaft, der allerdings einen schweren Hang zum Sammeln von Militaria aller Art pflegt. Deswegen habe jener anständige Bürger ihm, dem vorbestraften und bundesweit bekannten militanten Rechtsextremisten, ein paar tausend Euro anvertraut, um Waffen für die Sammlung zu besorgen. Martin Wiese hat dann, so erklärte er vor ein paar Wochen vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht, ein paar Pistolen, Handgranaten und vor allem 1,2 Kilogramm TNT besorgt, alles für den Sammler. Mit dem Geld, sagt Wiese, wollte er „den politischen Kampf finanzieren“. Leider sehe sich der große Unbekannte aber außerstande, vor Gericht auszusagen, denn das würde seine gesellschaftliche Reputation beschädigen.

Es war abzusehen, dass weder die Bundesanwälte noch die Richter diese Geschichte glauben würden. Zwar will Wieses Verteidiger Günther Herzogenrath-Amelung mit dem Militaria-Sammler gesprochen haben, doch bei dem rechten Szene-Anwalt weiß man ohnehin nicht so genau, wo die Szene aufhört und wo der Anwalt beginnt. Zumal Herzogenrath-Amelung 2003 Mitglieder der Münchner Neonazi-Truppe „Kameradschaft Süd“ schulte.

Es darf als gesichert gelten, dass Martin Wiese, 29, einst Kopf der „Kameradschaft Süd“, heute zu einer empfindlichen Gefängnisstrafe verurteilt wird. Die Frage ist nur, wie lange er sitzen muss. Sein Verteidiger plädierte gestern auf maximal sechs Jahre wegen Waffen- und Sprengstoffdelikten. Acht Jahre Haft hat dagegen die Bundesanwaltschaft gefordert – wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Nach Ansicht der Ankläger steht fest, dass Wiese und seine drei Mitangeklagten den Sprengstoff und die anderen gehorteten Waffen auch einsetzen wollten. Als Ziel für einen Anschlag hatten sich die Rechtsextremen die Grundsteinlegung des neuen jüdischen Zentrums in München am 9. November 2003 ausgesucht, doch zwei Monate vorher wurden sie festgenommen.

Seit November 2004 wurde gegen die Führungsriege der „Kameradschaft Süd“ verhandelt, und im Kern geht es dabei um eine Frage: Wie gefährlich waren und sind Martin Wiese, Alexander M., Karl-Heinz St. und David S. tatsächlich? Wieses Verteidiger Herzogenrath-Amelung spottete vor Gericht, ob denn tatsächlich jemand glaube, dass ein „loser Zusammenschluss von zwölf Menschen die demokratische Grundordnung eines Volkes von 80 Millionen“ stürzen könne. Mit Blick auf die weder finanziell noch intellektuell sonderlich begüterten Angeklagten urteilte er zudem: „Echte Revolutionäre sind aus anderem Holz geschnitzt.“ Der Mann kennt sich aus, er hat schon dem SS-Mann Erich Priebke, Angehörigen der „Skinheads Sächsische Schweiz“ und dem Auschwitz-Leugner Germar Rudolf zur Seite gestanden.

Nicht ungeschickt gewählt war daher auch sein Vergleich der „zwölf gegen die 80 Millionen“, der zweifellos an den „Kampf der sechs gegen 60 Millionen“ erinnern sollte, wie Heinrich Böll einmal die Situation der RAF charakterisiert hat. Tatsächlich kann man in Martin Wiese und seine Gruppe beim besten Willen keine „Braune Armee Fraktion“ hineininterpretieren, wie es Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU), immer auf der Suche nach einem Anlass für eine Gesetzesverschärfung, bereits kurz nach deren Verhaftung herausposaunte.

Dennoch hat sich im Laufe des Verfahrens immer mehr eine Struktur sowohl innerhalb der „Kameradschaft Süd“ als auch um sie herum herauskristallisiert, die man als neue Dimension einer rechten Bedrohung bezeichnen kann. Eine ganze Reihe von Aussagen einstiger Gruppenmitglieder belegte, dass die Münchner Neonazis nach außen hin legale Aktionen wie Demonstrationen, Mahnwachen und Schulungsabende mit möglichst unverfänglichen Themen wie Wohnungspolitik oder dem Wirken des Reichskanzlers Otto von Bismarck veranstalteten, im Inneren aber eine konspirative „Schutzgruppe“ bildeten, die Wehrsportübungen in den Wäldern rund um die bayerische Landeshauptstadt veranstaltete.

Wiese verniedlichte die geheimen Aktivitäten vor Gericht als „Cowboy- und Indianerspiele“, die allenfalls darauf abgezielt hätten, Abwehrtechniken zu üben gegen linke Gewalttäter, die den Rechten bei ihren Aufmärschen immer arg zusetzen würden. Doch die Aussagen anderer „Schutzgruppen“-Mitglieder zeichneten ein ganz anderes Bild. Jessica F., 23, die wie vier andere Angehörige der „Kameradschaft Süd“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, gab an, dass Wiese seine Truppe mit Luftdruckpistolen trainieren ließ mit dem Hinweis darauf, dass man bald scharfe Waffen zur Verfügung haben werde. Und Monika St., 19, erinnerte sich, dass Wiese die „Schutzgruppe“ nach dem Vorbild der in den Siebzigern und Achtzigern aktiven Wehrsportgruppe Hoffmann habe ausbauen wollen. Diese Aussage wiegt insbesondere vor einem bayerischen Gericht schwer, da man sich in München gut daran erinnert, dass es mit dem Rechtsextremisten Gundolf Köhler ein Mitglied jener Wehrsportgruppe war, das 1980 den Anschlag auf das Oktoberfest verübte.

Auch Martin Wiese und seine Mitangeklagten hatten ausreichend Sprengstoff beisammen, sie verfügten zudem über Material für mindestens eine Rohrbombe und über Zünder. Laut Bundesanwaltschaft hatten sie zudem bereits eine Sprengversuch unternommen. Die Darstellung als national gesinnte, aber legal agierende junge Menschen brach vollends zusammen, als Anfang März Alexander M. und David S. überraschend zwei umfangreiche Geständnisse ablegten, in denen sie einräumten, dass mit dem TNT Anschläge verübt werden sollten.

Anführer Wiese, der bis dahin beständig den coolen Boss mimte, geriet daraufhin völlig außer sich und beschimpfte die beiden lauthals als „Verräter“. Die Stimmung war derart explosiv, dass nach einer Verhandlungspause der treue Wiese-Adlatus Karl-Heinz St. als Puffer zwischen den erbosten Anführer und Alexander M. platziert wurde. Den Anwalt von David S. bedrohte der Neonazi-Anführer mit den Worten: „Sie werden sich noch in den Arsch beißen für das, was Sie getan haben.“

Wieses Anwalt Herzogenrath-Amelung besprach die neue Situation sogleich mit dem stets beim Prozess anwesenden Norman Bordin. Der 29-Jährige war bis zu einem Gefängnisaufenthalt Wieses Vorgänger bei der „Kameradschaft Süd“ und hat jetzt erneut die Führung der organisierten Rechtsextremisten im Münchner Raum übernommen. Zugleich hält er als prominenter Neuzugang der NPD Kontakt in Parteikreise. Selbst wenn Martin Wiese samt seinen Handlangern nun ins Gefängnis muss, kann er sicher sein, dass seine Aktivitäten weitergeführt werden.

Wohin die politischen Bestrebungen der „Kameradschaft Süd“ führen sollten, daran blieb vor allem in den letzten Prozesswochen kein Zweifel offen. In beschlagnahmten Briefen aus der Haft hetzte Wiese gegen die „Judenrepublik“, die er am liebsten höchstpersönlich „plattmachen“ würde. Unterzeichnet hat er solche Schreiben zumeist mit „Heil Hitler“. Ein wenig wirkte es so, als wollte er nach allerlei Geplänkel nun endlich die Maske fallen lassen, um ein Zeichen für die Neonazi-Szene zu setzen. Auf die Frage der Richter, warum er sich ein Hakenkreuz auf die Brust hat tätowieren lassen, antwortete Wiese nur noch höhnisch, das solle man doch alles „nicht so eng sehen“.