Oberschichtsfernsehen

2.055 Minuten Kultur zeigt das deutsche Fernsehen täglich. Doch was ist das eigentlich, Kultur? Alles, wo Schiller und „aspekte“ draufsteht? Oder vielleicht auch „Big Brother“?

Ist Guido Knopp schon Kultur, einfach weil es bei ihm um Geschichte geht?

VON HEIKO DILK

Ein Tag hat 24 Stunden oder 1.440 Minuten. Ein Fernsehtag hat 2.055 Minuten Kultur. Zumindest hat das eine kürzlich vorgestellte Studie ergeben. Genauer gesagt hat sie ergeben, dass es im ersten Quartal 2005 pro Tag in 19 untersuchten Programmen durchschnittlich 2.055 Minuten Kultur gab. Und wenn man sich auf die Suche nach diesen 2.055 Minuten macht, fällt es manchmal ziemlich schwer, sie in den 26.760 Minuten zu finden, die diese 19 Sender an einem Tag so ausstrahlen (eigentlich sollten es ja 27.360 Minuten sein, aber Arte ist kein 24-Stunden-Programm). An anderen Tagen wiederum, speziell am Wochenende, fällt es ziemlich leicht – selbst, wenn man den recht klassischen Kulturbegriff der Studie zu Grunde legt. Gerade jetzt, wo „Schiller-“ und „Einstein-Jahr“ ist, wo sich die Befreiung von Auschwitz und das Kriegsende zum 60. Mal jähren. Man muss allerdings in den richtigen Sendern suchen.

Bevor dann Schluss ist mit der Minutenzählerei, noch dies hier: Etwas mehr als die Hälfte der Kultur im Fernsehen läuft laut Studie auf vier Sendern, die es gemeinsam gerade mal auf 2 Prozent Marktanteil bringen. Das sind 3sat (372 Minuten), BR alpha (273), Phoenix (260) und Arte (210). Im ZDF sind es dagegen nur 50 Minuten. Und die ARD kommt sogar nur auf 25. Da sind die besten Privatsender, Vox und RTL, mit je 17 Minuten nicht mehr weit entfernt.

ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann bezweifelt allerdings die Zahlen der Studie, die die Agentur media 102 anlässlich einer Anhörung der Enquete-Kommission des Bundestags zum Thema „Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien für die Kultur“ erstellt hat. Dort wurden nämlich nur die explizit als Kultur ausgewiesenen oder erkennbaren Sendungen erfasst –Alltags- oder Populärkultur wurde nur in Form von Popkonzerten berücksichtigt. „Uns ist es ganz wichtig, Kultur in die anderen Programme einzustreuen, um Hemmungen zu überwinden und abzubauen“, sagt von der Tann. Beim ZDF sieht man das ähnlich. Gemessen an der Erfassungsmethode seien die 50 Minuten aber „kein schlechter Wert“, findet Sprecher Walter Kehr.

Und Kultur kann ja auch nicht von der äußeren Form einer Sendung abhängen. Sie begegnet einem nicht nur in der „Kulturzeit“ (3sat), bei „Metropolis“ (Arte), im „Kulturweltspiegel“ (ARD) oder bei „aspekte“ (ZDF). Sie könnte einem selbst bei „Vera am Mittag“ (Sat.1) begegnen (etwa: „Hilfe, meine Frau liebt einen toten Dichter“) und nicht nur in Volker Panzers „Nachtstudio“ (ZDF). Andererseits: Wenn das Erste den Spielfilm „Schiller“ mit dem jungen, populären Matthias Schweighöfer in der Titelrolle zeigt, muss das noch nicht deswegen Kultur sein, weil es um Schiller geht. Oder wenn Guido Knopp im ZDF Zeitzeugen, weinende Witwen und untergehende Schiffe auffährt, dann hat das zwar den Vorteil, dass sich das viele anschauen, aber ist das Kultur, nur weil es dabei um Geschichte geht?

Umfragen belegen immer wieder, dass sich ziemlich viele Menschen für Kultur interessieren. Oder, wie von der Tann es ausdrückt: „Es gilt als erstrebenswert, sich für Kultur zu interessieren.“ Aber was meinen die Befragten eigentlich mit Kultur? 3sat, Arte, Phoenix oder BR alpha offenbar nicht, sonst wären die Einschaltquoten höher.

Zwei Lösungen scheinen bei ARD und ZDF für dieses Dilemma zu existieren: Entweder man versucht, mehr Menschen mit der Kultur in Kontakt zu bringen, indem man sie in anderen Sendungen versteckt. Oder man versucht, die Kultur unterhaltender, populärer zu vermitteln. Zuweilen können die Öffentlich-Rechtlichen das ja sogar ganz gut. „Schwarzwaldhaus 1902“ oder zuletzt „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“ im Ersten haben das gezeigt. Vielleicht war sogar die Showreihe „Unsere Besten – Wer ist der größte Deutsche?“ im ZDF gar nicht mal so schlecht gelungen, was die unterhaltende Vermittlung von Kulturgütern angeht. Oft, und insbesondere dann, wenn Alltagskultur populär vermittelt werden soll, klappt das aber nicht so gut. So zeigte das ZDF vergangene Woche die vermeintlich ernsthafte Doku „Chaos im Kinderzimmer“ über den Einsatz von Erziehungshelfern – letzten Endes sah das dann aber doch genauso aus wie die RTL-„Supernanny“.

Und möglicherweise liegt das Problem schon im Ansatz. Statt ständig zu versuchen, Kulturelles populär zu vermitteln, könnte man ja mal den umgekehrten Weg gehen und das gesamte Programm, und besonders die Unterhaltung, auf eine kulturelle Basis stellen. Richtig vermittelt kann man nämlich beispielsweise von „Big Brother“ auf RTL 2 eine ganze Menge über Gegenwartskultur lernen – auch weil es an sieben Tagen in der Woche läuft, und auf Premiere sogar 1.440 Minuten täglich.