Annäherungen eines feinfühligen Wilden

FOTOGRAFIE Obsessiver Erotomane des Bildes: Eine Ausstellung in München und ein Bildband erinnern an das Werk des viel zu früh gestorbenen Fotokünstlers Mark Morrisroe

Gerade die späten Fotogramme zeigen, mit welcher Obsession dieser Fotograf seinem Bildmedium so nahe wie möglich kommen wollte

VON STEFFEN SIEGEL

Zwei Jahrzehnte nach seinem viel zu frühen Tod ist es sonderbar ruhig geworden um den US-amerikanischen Fotografen Mark Morrisroe. Dabei zählt sein fotografisches Werk zu den spannungsvollsten seiner Generation. Seine Bilder sind voller Paradoxien: wild und gleichgültig, zerstörerisch und feinfühlig zugleich. Und stets sehen sie aus, als seien sie einzig für den Augenblick gemacht, könnten ebenso schnell verschwinden, wie sie entstanden sind.

Gerade deshalb ist es ein großer Glücksfall, dass Morrisroes künstlerischer Nachlass, der bereits 2004 von der Schweizer Ringier Collection erworben wurde und sich heute im Fotomuseum Winterthur befindet, nun in einem großartigen Buch zusammengefasst wurde und durch einen hervorragenden Kommentar begleitet wird. Konzipiert als Katalog für Retrospektiven in Winterthur, New York, die früher in diesem Jahr stattfanden, und für eine Ausstellung, die jetzt in der Münchener Villa Stuck zu sehen ist, leistet dieser Band weit mehr als das Übliche.

Nach den einzelnen von Morrisroe verwendeten fotografische Techniken geordnet – Polaroids, C-Prints, Sandwich-Prints, Zyanotypien, Fotogramme etc. –, wird hier zum ersten Mal die staunenswerte Vielseitigkeit des Fotografen in ganzer Breite und in hervorragenden Reproduktionen vor Augen geführt. Zum Vorschein kommt dabei ein Künstler, der viel weitsichtiger und planvoller agiert, als dies der flüchtige Gestus seiner fotografischen Handschrift auf den ersten Blick vermuten lässt.

Hierzu will gut passen, dass sich Morrisroe in seinem Tagebuch nicht lang bei der Vorrede aufhielt. Am 13. Juli 1985 notierte er: „Ich Mark Morrisroe schwöre, dass ich eiskalt alle benutzen und manipulieren werde, die meiner Karriere dienlich sind. Egal wie sehr ich sie hasse, ich werde so tun, als würde ich sie lieben. Ich werde jeden ficken, der mir nutzt, wie abstoßend ich ihn auch finde. Niemals wütend werden, wenn es der Karriere schadet.“

Dieser scheinbar nur an sich selbst gerichtete Schwur dürfte bereits erster Teil eines fortgesetzten Maskenspiels sein. So pflegte Morrisroe seine Herkunft zu einem Roman von Pulp-Fiction-Qualität zu stilisieren: Seine Mutter sei Prostituierte gewesen und sein Vater unbekannt. Was die willkommene Gelegenheit ergab, später darüber zu spekulieren, dass sein leiblicher Vater kein anderer als der Serienmörder Albert DeSalvo – der berüchtigte „Boston Strangler“ – war; schließlich lebte dieser ja in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Mit 16 Jahren verließ Morrisroe seine drogenabhängige Mutter und verdiente sein Geld als Stricher. Dass er 1976 einen Schuss, den ein Freier in seinen Rücken abfeuerte, knapp überlebte, war wohl nichts anderes als Glück. Boston war in den späten 1970er Jahren ein aussichtsreicher Ort, um eine Karriere als Fotograf zu starten. An der School of the Museum of Fine Arts studierten in dieser Zeit unter anderem Nan Goldin, David Armstrong, Philip-Lorca diCorcia und eben – nur kurz nach diesen seither zu Künstlerstars aufgestiegenen Fotografen – auch der wenige Jahre jüngere Mark Morrisroe.

So unterschiedlich die persönlichen Blicke all dieser Fotografen sein mögen, ihnen allen gemeinsam ist die intime Annäherung an einen Alltag voller Punk-Musik, Drogen, Prostitution und Queer Culture, die es längst nahe gelegt hat, von einer „Boston School of Photography“ zu sprechen. Dass Morrisroe, der seit den 1980er Jahren in New York lebte, zu dieser Künstlerschule gezählt wird, versteht sich angesichts seiner Bildthemen von selbst – und wird ihm doch nur auf sehr pauschale Weise gerecht.

Blickt man auf die Gesamtheit seines innerhalb von kaum mehr als einem Jahrzehnt entstandenen fotografischen Werks, so lässt sich gar nicht übersehen, wie dominant zwar die Ästhetik des Underground ist und wie lustvoll Morrisroe hierbei das Wilde und Zerrissene in seinen Bildern inszenierte. Mit all diesen fotografischen Kraftgesten der Unmittelbarkeit verbinden sich jedoch überaus umsichtige Beschreibungen eines Lebensstils, der zur genialischen Attitüde gerade deshalb greift, weil sich mit ihr die ironische Selbstinszenierung am weitesten vorantreiben lässt.

Morrisroes Fotografien sind voller sexueller Anzüglichkeiten. Doch halten sie stets genauen Abstand zum pornografischen Ennui. Und gerade deshalb gehören sie zum Besten, was von der erotischen Fotografie der 1980er Jahre übrig geblieben ist. Wie sehr Morrisroe ein Erotomane des Bildes gewesen sein muss, wird an den Rändern seiner Fotografien deutlich. Mit dickem Filzstift beschmierte er die weißen Streifen rings um das Bildfeld, notierte dort Widmungen und ausführliche Bildkommentare und krakelte neben seine Signatur in verschiedenen Farben eigentümliche Ornamente und Muster.

Bei Morrisroe ist der Blick durch den Sucher der Kamera nicht mehr als der Anfang einer Arbeit am fotografischen Bild. Mit Kratzern und farbigen Fingerabdrücken, mit Schraffuren und Beschriftungen wird hier der fotografische Raum auf überaus beziehungsreiche Weise erweitert. Und gerade die späten, zwischen 1985 und 1989 entstandenen Fotogramme, die auf den Einsatz eines Fotoapparates gänzlich verzichten, zeigen, mit welcher Obsession hier ein Fotograf seinem eigenen Bildmedium so nahe wie möglich kommen wollte, um mit diesem in ein denkbar intimes Verhältnis zu treten.

Morrisroes künstlerische Karriere endete früh. Als er im Tagebuch seinen bedingungslosen Schwur auf Erfolg notierte, war er noch genau vier Jahre vom Tod an den Folgen seiner HIV-Infektion entfernt. Und so war es in der Tat, wie der Titel der bisher einzigen deutschen Ausstellung seines Werks 1997 in der Berliner NGBK formulierte, kaum mehr als eine „unterbrochene Karriere“. Mit diesem Buch stehen die Chancen gut, dass Mark Morrisroes Karriere 1989 zwar unterbrochen wurde, aber eines gerade eben nicht: abgebrochen.

Ausstellung in der Münchener Villa Stuck bis 28. Mai; das Katalogbuch mit Beiträgen der Kuratoren Beatrix Ruf und Thomas Seelig sowie anderen erschien bei JRP Ringier, Zürich, 512 Seiten, 45 Euro