Anna. Gerda. Und darauf einen Einfachen

DAMEN Samstags in der Küche treffen sich zwei. Anna, die Einheimische. Und Gerda, die erst 1945 in den Frankenwald kam. Zum Likör gibt es Filterkaffee, Plätzchen und alles aus zwei Leben, was der Erinnerung würdig ist

AUS WOLFERSGRÜN THOMAS FEIX

Eine Woche lang ist Anna damals aus Wolfersgrün fortgewesen, so lange wie nie vorher und nie wieder danach. Sankt Peter hat sie besucht und die Sixtinische Kapelle, hat Rosenkränze gebetet und frommen Disputen gelauscht. Urlaub war es, sagt sie, weil sie nicht zugeben will, dass sie anders als Gerda noch nie im Urlaub war. Eine Pilgerfahrt ist die Busreise oberfränkischer Katholiken nach Rom in Wahrheit gewesen, damals vor zweiundzwanzig Jahren. Und da Anna, verwitwete Lippert, noch nie im Urlaub war, war sie auch nie am Meer.

Gerda trägt Trauer, schwarz bis zu den Schuhen hinunter. Vor drei Monaten ist ihr Sohn gestorben, das Herz war ihm plötzlich stehen geblieben, neunundfünfzig war Norbert erst. Schlimm, wenn die Kinder früher als die Eltern gehen. Das Haar hat sie sich am Vormittag vom Frisör in Geroldsgrün blondieren und in Dauerwellen legen lassen, frisch und mit Fülle umrahmt es nun wieder das zarte Gesicht und die feine randlose Brille. Ihr Baptist ist schon seit zweiundvierzig Jahren nicht mehr, seither ist Gerda auch ohne Ehemann, Baptist und Gerda Braunersreuther sind sie als Ehepaar gewesen.

Geflohen

Christianstadt, sagt sie. Das ist da, wo sie geboren und aufgewachsen ist, nahe Grünberg in der Niederlausitz, Polen heute. Christianstadt, das bis zum Ende des letzten Krieges protestantisch war und heute katholisch ist und Krzystkowice heißt. Die Stadt hat sie nicht wiedergesehen. Die Polen behagen ihr nicht, Gerda sagt, dass sie nicht nur Flüchtling ist, geflohen vor den Russen im Februar 1945, sie fühlt sich auch davongejagt, weil sie nach Kriegsende nicht von Wolfersgrün nach Christianstadt zurückkehren durfte.

Bailey’s nehmen sie beide, Anna und Gerda, wenn sie immer samstags am späten Nachmittag in Annas Küche sind, Filterkaffee außerdem und Plätzchen, die Anna gebacken hat. Ihren Likörkreis nennen sie das Treffen. Gerda sitzt auf der Eckbank am Fenster, den Tisch vor sich, Anna Gerda gegenüber auf dem Stuhl, das matte Dunkelbraun der Küchenanbauwand im Rücken. Noch einen?, fragt Anna Gerda immer wieder, hebt die Likörflasche an, Gerda nickt, schiebt ihr das Glas hinüber, und Anna schenkt ihr einen Einfachen ein, dann sich selbst. Um das, was im Dorf geredet wird, dreht sich das Gespräch, und um die Vergangenheit und was an ihr ihnen der Erinnerung würdig ist. Einen Bailey’s jedes Mal darauf.

Zweihundertdreißig Einwohner hat Wolfersgrün, Ortsteil der Stadt Wallenfels auf einem Höhenzug mitten im Frankenwald zwischen Kronach, Kulmbach und Hof. Wälder und Berge ringsum, im Tal die Wilde Rodach, ein schnell fließender Fluss. Bis 1972 war Wolfersgrün selbstständig, im Mittelalter aus einer Rodungssiedlung hervorgegangen.

Katholisch sind die Alten, ihre Anzahl überwiegt die der Jungen. Einen Schützenverein gibt es, eine Soldatenkameradschaft, einen FC-Bayern-Fanclub. Geroldsgrün, der Nachbarort, ist evangelisch, Anna meint, Geroldsgrün hatten die Lutherischen zur Reformationszeit schnell erobert, nach Wolfersgrün hinein aber hatten ihnen die Bewohner den Weg verlegt. Eine Anekdote, in Wirklichkeit gehörte Geroldsgrün zur preußischen Herrschaft Brandenburg-Bayreuth, Wolfersgrün zum Kurfürstentum Bayern, bis Napoleon beide Gebiete zum Königreich Bayern vereinigt hat.

Zweihundertdreißig, sagt Gerda, und immer weniger werden es, und keiner will mehr Kinder, oder man zieht weg. Als sie ihren Baptist geheiratet hat, 1953 war das, ist sie zum katholischen Glauben übergetreten. Dass eine Evangelische, eine Aussiedlerin aus Preußen zudem, einen Katholiken aus alteingesessener Wolfersgrüner Familie ehelicht, hielten die Leute des Dorfes für keine gute Sache. Geschwätz und Tratsch gab es, sagt Gerda. Um den Argwohn zu besänftigen, hat sie Trauung und Übertritt miteinander verknüpft. Auch sollten es ihre Kinder leichter haben als sie selbst es bis dahin als Protestantin in katholischer Umgebung gehabt hatte.

Der Likörkreis

Freundinnen sind Anna und sie jedoch erst geworden, nachdem Josef 2005 gestorben war, Annas Mann. Anna und Josef. Nach seinem Tod war sie ohne Gefährten, ohne Aufgabe, wie ohne Halt, bei Gerda war es doch schon jahrzehntelang ohne ihren Baptist so, wie sie suchte Anna nun auch nach Unterhaltung, Ablenkung, Zeitvertreib, nach etwas wie Halt, und darum haben Anna und Gerda den Likörkreis gegründet.

Unten im Haus, unter Annas Wohnräumen, ist die Schreinerei. Seit Josef, der Schreiner, vor mehr als fünfundzwanzig Jahren in Rente gegangen war, ist niemand mehr zur Arbeit in der Werkstatt gewesen. Wie Gerda war Josef 1945 als Flüchtling aus dem Osten nach Wolfersgrün gekommen, im Mai, ein Katholik aus dem Sudetenland.

Besser einen katholischen Flüchtling als einen evangelischen Hiesigen, hat Annas Mutter gesagt, als Anna ihr Josef als zukünftigen Ehemann vorgestellt hat. Vor Josef hatte es einen Geroldsgrüner Kandidaten gegeben, gegen den Annas Mutter eingewendet hatte, dass er als Protestant nicht infrage kommt. Keinen anderen als einen Katholiken sollte Anna heiraten, und dann war Josef aufgetaucht. Anna traf ihn, er war wie sie Jahrgang 1925, an einem Nachmittag auf einer Feier in der Wolfersgrüner Gastwirtschaft.

Kein Geräusch in der Küche, kein Kühlaggregat, das brummt, keine Uhr, die tickt, kein Laut, der von außen her zu Anna und Gerda dringt, nur sie beide und das, was sie bewegt, und in der Mitte zwischen ihnen auf dem Tisch die Flasche mit dem Likör. Die Tür zur Diele hin ist geschlossen, und draußen vor dem Fenster ist der Hof, dahinter eine Wiese und hinter der Wiese der Schattenriss des Waldes und über allem die Schwärze des Winterabends, die jegliche andere Farbe schluckt. Gerda sitzt aufrecht auf ihrem Platz, die Hände im Schoss, und wenn Anna sich auf ihrem Stuhl bewegt und spricht, wartet sie schon immer darauf, dass sie endlich wieder an der Reihe ist, doch es kommt nicht einmal vor, dass sie Anna unterbricht.

Auf den Geroldsgrüner Tanzböden bahnten sich in Annas und Gerdas Jugend die meisten Wolfersgrüner Ehen an, die Gefahr der Vermischung von Katholiken und Protestanten inbegriffen. Das war Mutters Pein, sagt Anna, dass die katholische Tradition der Familie einmal durch einen evangelischen Eindringling gebrochen werden könnte, und als sie darüber spricht, räumt Anna ein, dass sie die Pein von Mutter übernommen hat. Streng wie einst Mutter möchte sie sein, wenn es um den rechten Glauben geht. Annas Tante mütterlicherseits war katholische Ordensschwester.

Zu Annas Kummer haben sich ihre Söhne evangelischen Frauen zugewandt, aus Geroldsgrün die eine, aus dem weiter entfernten Naila die andere. Geheiratet wurde immerhin katholisch, das ist Anna nach wie vor Genugtuung und auch, dass die Kinder aus beiden Ehen katholisch geworden sind. Unmöglich nur ist es Anna, dabei darüber hinwegzusehen, dass die Enkel gleich ihren Vätern evangelischen Frauen erlegen sind. Doch Anna weiß, dass die Dinge zu Mutters Zeiten genau besehen nicht viel besser waren als heute, und sie weiß auch, dass die Familie ihr Beharren und den tugendhaften Blick, den sie auf das Treiben der Anverwandten gerichtet hält, als Ausfluss ihrer Herzensgüte wertet.

Josef, der Schreiner

Anna unterbricht sich beim Reden zuweilen selbst, weil sie seufzen muss. Mit unglücklicher Miene sitzt sie dann da, als wäre eine Klage tief in ihr, auf die sie horcht.

Schneider der Vater, Landarbeiterin die Mutter, von Kind an war Anna den Eltern zur Hand gegangen, einen Beruf hat sie daher nicht erlernt, während ihre drei Brüder Schmied, Schneider und Schuster geworden sind. Als Josefs Frau half Anna in der Schreinerei mit, darüber hinaus hatte sie mit den Söhnen zu tun und immer mit dem Haus und mit dem Haushalt. Josef und ich, sagt sie, wir haben nur gearbeitet und nur gespart, das Haus musste gebaut und unterhalten, und Maschinen für die Schreinerei mussten angeschafft werden.

Zu Hause

Nie ein lautes Wort zwischen ihm und mir, sagt Anna, stets nichts als Harmonie die ganze lange Ehe über, und nachher hat er Alzheimer bekommen oder war es doch Demenz, Anna weiß es im Moment nicht genau. Im Jahr 1949 hatten sie geheiratet, eine Heirat aus Liebe, sagt sie, sie wollte ihn, und er wollte sie, und sofort nach der Hochzeit fingen sie das Haus zu bauen an. Dunkelblau ist Annas Bluse, eine dunkle Hose dazu, das weiße halblange Haar glatt zurückgekämmt. Größer als Gerda ist sie und auch schlank, hager vielleicht.

Anna erhält nun Witwenrente, sie besorgt ihren Haushalt und bügelt für alle in der Familie und räumt auf, und immer samstags kommt Gerda zu ihr in die Küche. An so etwas wie Verreisen und Erholen hat Anna all die Jahre über nie gedacht, ihr fehlte auch das Interesse an der Fremde, zu Hause passierte genug, und jetzt kriegt sie in ihrem Alter ohnehin niemand mehr aus Wolfersgrün hinaus, nicht einmal für einen Tag, nicht einmal nach München zur Hochzeit ihres Enkels Marco mit seiner Evangelischen.

Urlaub sind Anna gleichfalls die Stunden, die sie 1975 in Polen war, Urlaub ist es immer dann für sie, wenn sie außerhalb des Wolfersgrüner Umkreises war. Nachts hin, am Morgen die Heirat in Wroclaw und gleich wieder zurück nach Wolfersgrün. Ihr Neffe hatte Hochzeit mit einer Polin, eine Katholische, sagt Anna. Besser eine katholische Ausländische als eine Evangelische von hier. Seit bald vierzig Jahren wohnen Johanna und Julian nun gemeinsam in Wolfersgrün.

Anna erzählt von der Reise wie von einem Ereignis, das sie seinerzeit gerade so überstanden hat, gerade so davongekommen. Zum ersten Mal unterwegs, mit dem Zug durch die DDR hindurch und nach Polen hinein, wie gern hätte sie darauf verzichtet. Gefahren ist sie allein deshalb, weil ihr Neffe Trauzeugen brauchte, und auch Rom hätte sie nie gesehen, hätte Josef nicht auf Teilnahme an der Pilgerfahrt bestanden. Unser Pater Heinrich ist auch aus Polen, sagt Gerda, 1990 nach Wolfersgrün eingewandert.

Baptist, sonst keinen

Gerda die Vernünftige, die es gewohnt zu sein scheint, sich selbst dazu anzuhalten, Schicksalhaftes als das zu betrachten, was es ist, als nicht abzuwenden. Anna die Gefühlvolle, Sanfte, vielleicht ist ihr die Klage sogar eine Lust geworden, ihre Worte zieht sie lang. Gelbes Licht fließt von der Deckenleuchte über dem Tisch und füllt die Küche in langen weichen Wellen. Gerda redet viel mehr als Anna, stets in einem Fluss, stets achtet sie selbst auf den Zusammenhang, sie drängt und fordert. Aufmerksamkeit und Beachtung fordert sie, sobald sie spricht.

Sechzehn Jahre lang waren sie und ihr Baptist miteinander verheiratet, dann starb er, er war da schon Jahre schwer krank. Sie hatte nichts, sagt Gerda, kein Eigentum, kein Vermögen, nur einen Koffer mit Kleinkram und auf dem Leib die drei Kleider, die sie übereinander angezogen hatte.

Über Grünberg und Halle an der Saale war sie im Jahr 1945 von Christianstadt nach Wolfersgrün gekommen. Von Halle aus hatte es ursprünglich nach Dresden und weiter ins Sudetenland gehen sollen. Weil Dresden nach der Bombennacht vom 13. Februar praktisch nicht mehr existierte, fuhr der Zug mit den Flüchtlingen statt nach Südosten dorthin, wo es sicher war, in Richtung Südwesten, nach Bayern. Vom Bahnhof Kronach aus schickten die Behörden Gerda dann nach Wolfersgrün. Trostlos und öde kam es Gerda dort vor, und sie hatte nicht die Absicht, sich ins Dorf einzuleben, und dann war ihr Baptist auf einmal da.

Einen anderen Mann nach ihm wollte Gerda nicht, dabei war sie gerade dreiundvierzig, als sie Witwe wurde. Keine Zeit, sagt sie, und keine Lust auf Ärger, den vielleicht eine neue Liebe mit sich gebracht hätte. In einer Fabrik in der Region hat sie gearbeitet, früh los und abends spät heim, kein Platz für einen Neuen.

Bügeln gegen Langeweile

Schwierig, sagt sie, aussichtslos beinahe, den Tod des Sohnes zu verkraften, gesund war er und von gutem Charakter, ihre Hoffnung und ihre Zuversicht war er, und dann kam die Nachricht, dass Norbert tot ist. In Bewegung soll sie bleiben, hat ihr der Arzt geraten, am Leben teilhaben, rausgehen, Besuche machen, und Bügeln und Aufräumen gegen Einsamkeit und Langeweile wie Anna, das tut sie sowieso.

Nach zwei Stunden beenden Anna und Gerda den Likörkreis, den Dorfklatsch sparen sie sich für kommenden Samstag auf. Anna hat das Strenge abgelegt, zum Schluss erzählt sie die Geschichte von Mutter und dem Frisör in Geroldsgrün. Wie zornig Mutter war, als Gerda einmal verspätet vom Frisieren nach Hause zurückgekehrt war. Was sie da so derart endlos bei den Protestanten gemacht hat, wollte Mutter von ihr wissen.

Gerda muss an sich halten, nicht weiter zu kokettieren, sie ist dabei, mit Worten und mit Gesten zu spielen, vielleicht war es diesmal ein Einfacher zu viel. Nach rechts schwenkt sie auf die Dorfstraße ein, nachdem sie den Mantel zugeknöpft hat und aus Annas Haus getreten ist. Bis zu ihrem eigenen ist es nicht weit, das sie und ihr Baptist von seinen Eltern geerbt haben, und Anna sieht ihr hinterher und staunt dabei darüber, dass die zierliche Gerda die Regentropfen nicht kümmern und nicht die Böen, da es eben zu regnen und zu stürmen angefangen hat.

 Thomas Feix ist freier Journalist in Berlin. Er war eigentlich wegen einer anderen Reportage in den Frankenwald gereist, als er auf Anna und Gerda traf