Bis heute verfolgte Minderheit

Als die Minderheit der Roma 1999 im Kosovo zwischen die großen Kriegsparteien geriet, gelang manchen der Opfer ethnischer Verfolgung die Flucht nach Bremen. Aber einen sicheren Aufenthalt haben die traumatisierten Vertriebenen bis heute nicht – die einst Verwandten in deutschen KZs verloren

„Die Deutschen müssen uns helfen. Die haben uns gefoltert.“ Solche geschichtsträchtigen Sätze sagt in der Familie nur einer: Ein alter Onkel. 73 Jahre ist er – und 1999 zu Angehörigen bei Nürnberg geflüchtet. Was er genau erlebt hat, danach haben die Verwandten nie gefragt. Um ihn zu schonen.

„Wir denken an das Positive. An das, was wir schon erreicht haben.“ Wenn der 31-jährige Rom Milan L. einer Journalistin vom Bremer Alltag seiner Angehörigen berichtet, die nach den Pogromen 1999 aus dem Kosovo nach Deutschland kamen, klingt mancher Satz wie eine Beschwörung. Denn an das Positive denken, an eine Zukunft – das ist der schmale Grat, der bis heute vor den Überlebenden liegt. Vor den beiden Tanten, den drei Onkeln und deren Kindern, die 1999 auf deutschen Bahnhöfen eintrafen. Mit nichts als ihrer Kleidung auf dem Leib und Erlebnissen auf dem Herzen, deren bloße Andeutung ihnen bis heute die Tränen in die Augen treibt. Als die Tante sich beispielsweise an die Ankunft im brandenburgischen Auffanglager erinnert – und ihr dann die Gefühle die Stimme nehmen.

Obwohl endlich in der Sicherheit Deutschlands, ließ sich die Romafrau vom Mann im Zimmer einschließen, wenn der auch nur zum Telefonieren ging. „Sie konnte die Stimmen der albanischen Männer nicht ertragen und schon gar keinen sehen“, sagt schließlich Neffe Milan L. Auch er, der heute 31-jährige Sohn eines jugoslawischen Rom, der als Arbeitsemigrant in Bremen eine Heimat fand, erlebte 1999 die schwierigste Zeit seines Lebens: Erst machten ihn die Nachrichten von brandgeschatzten Wohnhäusern von Romafamilien, von Vertreibung und Vergewaltigung im Kosovo halb verrückt vor Angst um die Familie. Doch als dann die Angehörigen gerettet vor ihm standen, „gab es Tage, da wusste ich nicht, wie ich die durchstehen sollte“. Fast hätte er darüber den Arbeitsplatz verloren. So kompliziert war es, den Angehörigen zu helfen.

„Sie waren völlig durcheinander und kannten hier nichts und niemanden“, erinnert er sich noch genau an das versteinerte Gesicht der Tante, deren Haare mit dem Tag des Unaussprechlichen begonnen hatten, grau zu werden. Dass die Angehörigen, die ihm während der Ferien doch immer ihr Zuhause in der alten Heimat Kosovo geöffnet hatten, anfangs verschiedenen Flüchtlingsheimen in ganz Deutschland zugeteilt waren, war eine weitere Erschwernis. Erst nach Monaten gelang es einer Bremer Anwältin, die verstreuten Familienmitglieder an der Weser zu vereinen. Für Milan L. fiel damit wenigstens die nächtliche Fahrerei weg. Dafür begann die Lauferei zu Behörden und Wohnungsbaugesellschaften.

„Heute wohnen alle in meiner Nähe in Kattenturm“, sagt Milan L. zufrieden. „Das ist doch sehr positiv.“ Dass er selbst, als ständiger Übersetzer, an seine körperlichen und seelischen Grenzen geriet, erwähnt der junge Vater von demnächst vier Kindern nur in kurzen Andeutungen. „Manchmal habe ich nach so einem Gespräch selbst am ganzen Körper gezittert.“ Aber auch das hat sich verändert. Zum Guten. Inzwischen haben die Verwandten Hilfe gefunden bei der psychosozialen Beratungsstelle Refugio. Die ist – wie die Anwältin – ein Bindeglied zum deutschen Alltag geworden. Beide bringen manche Schieflage wieder ins Lot.

„Wieso dauert das mit dem Gutachten vom Gesundheitsamt so lange“, ist zurzeit ein akuter Reibungspunkt. „Dass die Familie ohne dauerhaften Aufenthalt ist, belastet sie psychisch sehr stark“, weiß die Anwältin. Doch sie kennt dramatischere Notlagen. Neulich beispielsweise, als ein Beamter im Ausländeramt dem Onkel einfach sagte: „Sie bleiben hier. Sie werden abgeholt“, geriet der 45-Jährige völlig in Panik. Erst hinterher stellte sich heraus, dass eine Verwechslung vorlag. Jemand anderes sollte abgeschoben werden. Doch seit kürzlich eine Schwester des Mannes aus Bayern zwangsweise ausreiste, lastet auf der Roma-Familie ein schwerer Druck. Sie haben schon einmal alles verloren: Den Beruf, das Haus, das Vertrauen in Sicherheit. Gehörten sie doch als Einwohner der Stadt Gniljane im Kosovo zu den Menschen, die als Handwerker aus Ausbildungsberufen etwas erreicht hatten. Integration war in der multi-ethnischen Stadt Alltag. „Wir hatten sogar fünf Rom bei der Polizei“, erinnern sich die Vertriebenen an ein weitgehend respektvolles Zusammenleben – bevor die Serben gingen, die Albaner sich gewalttätig gegen die Roma und andere ethnische Minderheiten wendeten – und endlich die UN-Truppen kamen. Da war das Schlimmste schon geschehen. Nun graut den Familien vor einer neuen Vertreibung.

Noch hoffen sie auf die Gerichte – die ihnen Asyl bislang aber nicht gewährt haben. Im Zuge der engen Asylrechtsauslegung vor dem Zuwanderungsgesetz hatten Minderheiten, die von Warlords gesteuertem Mob oder anderen nicht-staatlichen Verfolgern ausgesetzt waren, keine Chance auf Asyl. Doch in manchen Fällen schwerster Verfolgung erkennen die Gerichte Abschiebehindernisse an. Ein Onkel von L. hat diese Hürde schon geschafft. Die anderen Familienmitglieder zittern noch. Mit ihnen Milan L.

„Gottseidank bin ich hier gelandet“, sagt Milan L. Dabei hatte er größten Kummer durchlitten, als er vor über 25 Jahren nach Deutschland kam – nach dem Tod der Mutter, zum Vater, der sich hier bei den Stahlwerken verdingt hatte. Unauffällig, als Jugoslawe. Als Rom gab er sich nur Vertrauten zu erkennen – wie auch Milan L. lange Zeit. „Die Vorurteile gegen ‚Zigeuner‘, wie viele Deutsche heute noch sagen, sind so hartnäckig“, begründet er seine Vorsicht. Doch seine Kinder erzieht er in einem anderen Selbstbewusstsein. Als der sechsjährige Sohn neulich vom Spielen aus der Kattenturmer Multikulti-Welt heraufkam um zu fragen: „Papa, was sind wir eigentlich?“, da riet der Vater: „Sag‘, du bist Rom.“ Dass manche dann glauben, der Junge sei ein Italiener aus Rom – das lässt ihn schmunzeln.

Auch die anderen Kinder der Familie haben sich in inzwischen Bremen eingewöhnt. „Sie tanzen lieber zur Diskomusik als zur Folklore“, bedauern zwar die Älteren. Aber dass der Nachwuchs beim Offenen Kanal eine ganze Stunde pro Woche auf Sendung ist, erfüllt sie mit Stolz. „Das ist doch gut“, sagen die Eltern – um nicht darüber sprechen zu müssen, dass ihren Kindern als Volljährigen die Ausweisung droht – wenn das Abschiebehindernis etwa nur für die in den Ausschreitungen verfolgten Eltern gilt.

„Die Deutschen müssen uns helfen. Die haben uns gefoltert.“ Solche geschichtsträchtigen Sätze sagt in der Familie nur einer: Ein alter Onkel. 73 Jahre ist er – und 1999 zu Angehörigen bei Nürnberg geflüchtet. Die Flüchtlinge in Bremen sagen dazu nur: „Er wird es wissen.“ Der Mann habe die Naziverfolgung doch selbst erlebt – von der sie selbst im jugoslawischen Geschichtsunterricht gehört haben. Den alten Verwandten haben sie mit Fragen danach nie behelligt – und auch über jenen anderen Onkel, der von Deutschen einst ohne Wiederkehr abgeholt wurde, haben sie lange nicht gesprochen. „Wenn ich einen Menschen liebe, will ihn doch nicht an sein großes Leiden erinnern“, erklärt Milan L. das Schweigen über erlittenes Unrecht. „Und vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Menschen bei uns nur selten so alt werden.“ Eva Rhode