Bleifreies Leben in automobilem Zölibat

Am Dienstag berät der Stadtentwicklungsausschuss des Rates über Kölns erste autofreie Siedlung. Ab Herbst soll mit dem Bau begonnen werden. Aber immer noch köchelt der Streit um die Frage, wie „autofrei“ das Modellprojekt denn nun werden soll

Von THOMAS SPOLERT

Ein kleiner Junge lässt Sand durch seine Finger rieseln. Drei andere Kinder juchzen vor Freude, während sie immer wieder die Rutsche runtersausen. Mehrere junge Mütter sitzen auf der Bank daneben und unterhalten sich. Die warmen Sonnenstrahlen haben sie auf den kleinen Spielplatz am Wartburgplatz gelockt. Nur selten fährt ein Auto im Schritttempo vorbei. Frühlingsidylle in Nippes.

Doch die könnte bald gestört werden. Auch wenn die Anwohner „noch sehr gelassen“ seien, berichtet Birgit Marx, hätten viele dennoch ein etwas ungutes Gefühl. „Am meisten fürchte ich den Baulärm und den Autoverkehr“, sagt die 40-jährige Mutter zweier Töchter. Die Familie Marx gehört zu den rund 142.000 Kölner Haushalten, die selber kein Auto besitzen. Sie wohnt in einem Einfamilienhaus in der Eisenachstraße. In unmittelbarer Nähe soll Kölns erste autofreie Siedlung gebaut werden. Aber wie „autofrei“ wird sie sein?

Rund 420 Wohnungen sollen hier auf dem Gelände des ehemaligen Eisenbahnausbesserungswerks (EAW) ab September diesen Jahres gebaut werden. Bisher steht auf dem vier Hektar großen Bauareal nur ein durch viel Glas einsehbares Verkaufsbüro des Kölner Investors, der Kontrola Treuhandgesellschaft. Ansonsten beherrschen Sand- und Kiesberge die Szenerie.

Ökonomisch zu riskant

Ein blau-grüner Schuttcontainer steht herrenlos herum. Hie und da liegen alte Gleisschwellen am Rande des geteerten Weges, der von der Werkstattstraße quer über das Gelände hin zur Kempener Straße führt. Vereinzelte Fahrradfahrer und Hundebesitzer nutzen die Verbindung.

„Der Informationspavillon platzt zwischendurch aus allen Nähten“, heißt es vollmundig auf der Internet-Seite des „Stellwerk 60“ genannten 65 Millionen Euro schweren Vorzeigeprojektes. Bereits zwei Monate nach dem Vertriebsstart, so freut sich Kontrola, seien sowohl von den Wohnungen als auch von den Einfamilienhäusern, die sich in der Direktvermarktung befinden, rund ein Drittel verkauft worden. Damit seien schon jetzt die Erwartungen „weit übertroffen“ worden.

Das mag auch daran liegen, dass die Kölner Immobilienfirma zwar mit dem Etikett „Kölns erste autofreie Siedlung“ für das seit zehn Jahren geplante alternative Wohnprojekt wirbt, aber damit nicht mehr die ursprünglich angedachte „persönliche Autofreiheit“ meint, sondern nur noch die „gebietsbezogene“.

Denn nach den Vorstellungen des Arbeitskreises Autofreie Siedlung Köln (ASK), des Projektinitiators, hätten sich die künftigen Bewohner eigentlich für mindestens drei Jahre verpflichten sollen, kein Auto zu besitzen, um Blechlawinen und Autoabgase im Wohngebiet zu vermeiden. Aber das erschien Kontrola-Geschäftsführer Markus Schwerdtner dann doch „etwas von der Realität abgehoben“, sprich: ökonomisch zu riskant. „Es ist unpopulär, Menschen etwas vorzuschreiben“, so Schwerdtner.

Also wurde das vom ASK entwickelte Konzept Anfang des Jahres in einem entscheidenden Punkt modifiziert: Statt, wie geplant, ausschließlich an autofreie Haushalte zu vermieten oder zu verkaufen, bietet Kontrola den Wohnraum nun wahlweise auch mit einem Stellplatz am Rande der Siedlung an. Enttäuscht kündigte daraufhin der ASK die jahrelange Zusammenarbeit auf. Denn für den Arbeitskreis ist das ein Tabubruch: „Das ist keine autofreie Siedlung mehr“, so ASK-Aktivist Ralph Herbertz. Der ASK sei „etwas dogmatisch“ in dieser Frage, heißt es hingegen bei Kontrola.

Am morgigen Dienstag wird sich der Stadtentwicklungsausschuss erneut mit dem Kontrola-Konzept beschäftigen. Denn auf der vergangenen Sitzung vertagten die Ratspolitiker die Entscheidung über den städtebaulichen Vertrag, der die Öffnungsklausel für die autofreie Siedlung festschreiben sollte. Die Grünen hatten sich für die Vertagung stark gemacht. „Auch wir sind bei diesem Projekt unterschiedlicher Meinung“, sagt Ratsfraktionschefin Barbara Moritz. „Aber man muss soviel wie möglich von der Idee retten.“ Die Grüne wirbt daher seit mehreren Wochen dafür, sich wieder an einen Tisch zu setzen.

Grundstücksoption endet

Viel Zeit für die Kompromisssuche bleibt nicht. Denn am 30. Juni endet für Kontrola die Grundstücksoption auf das EAW-Gelände. „Bis dahin müssen sie sich einigen, sonst ist die autofreie Siedlung tot“, erklärt Moritz. Denn danach könnte es an die Firma Hohr zurück fallen. „Für diesen Fall“, so meint auch der ASK, dürfte es „sehr wahrscheinlich“ sein, dass „die Firma Hohr einen geänderten Bebauungsplan ‚bekommt‘ und das Gelände konventionell bebauen wird“. Eine bittere Aussicht für den ASK, denn eine autofreie Siedlung woanders in Köln erscheint in absehbarer Zeit nicht realisierbar. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass inzwischen die Chancen auf eine Verständigung wieder gestiegen zu sein scheinen. „Der ASK und die Kontrola wollen wieder miteinander verhandeln“, berichtet Moritz der taz.

Tatsächlich scheinen sich beim ASK inzwischen die „Realos“ gegenüber den „Dogmatikern“ durchgesetzt zu haben. Auf seiner letzten Mitgliederversammlung sprach sich der Arbeitskreis mehrheitlich für die Wiederaufnahme von Gesprächen mit der Kontrola aus. „Der eine oder andere hatte dabei schon Bauchschmerzen“, verrät Ex-Vorstand Rolf Bauerfeind.