Ein Vogel im Käfig

KLASSIKER „Die Wildgans“ von Mori Ogai zeigt das Japan des 19. Jahrhunderts an der Schwelle zur Verwestlichung

VON KATHARINA BORCHARDT

Die 20-jährige Otama sitzt am Fenster ihres Hauses und blickt verstohlen auf die Straße. Dort spazieren ab und zu die schnieken Studenten der nahe gelegenen Universität vorbei. Otamas Fenster ist „mit senkrechten Bambusstäben vergittert, über die zwei hölzerne Querleisten genagelt waren“. Trotzdem entdeckt der untadelige Medizinstudent Okada die schöne junge Frau, und nach kurzer Zeit lächelt sie ihn auch schon an, und er zieht zum Gruße die Mütze.

Otamas Haus steht in Muenzaka, das heute zum Großraum Tokio gehört. Es ist das Jahr 1880, das dreizehnte Jahr der Regierungszeit des Meiji-Tennos, wie der Erzähler, ein Studienkollege Okadas, vermerkt. Die Geschichte um Otama und Okada fällt also in eine Zeit enormer wirtschaftlicher Modernisierung und gesellschaftlicher Verwestlichung in Japan. In der frühen Meiji-Ära gingen viele japanische Studenten nach Europa; auch Okada überlegt, an einer deutschen Universität einen Doktortitel zu erlangen.

Otama aber ist noch ein Geschöpf des alten Japan. Ihr Vater war verarmt, legte jedoch stets Wert auf gepflegte Umgangsformen und ließ seine Tochter die traditionelle Shamisen erlernen. Da es an attraktiveren Bewerbern mangelt, stimmt ihr Vater schließlich einer halbehelichen Verbindung mit Suezo zu, der durch Wucher zu Geld gekommen ist. Da Suezo verheiratet ist, wird Otama seine Zweitfrau.

Nun ist es die Pflicht der „in Dienst gegebenen“ jungen Frau, sich täglich hübsch herzurichten und auf die Besuche des Mannes zu warten, den sie ihren Herrn nennt. Weil das Warten auf die Dauer langweilig wird, schenkt Suezo ihr zwei kleine Finken. In den Vogelkäfig, den Otama ausgerechnet am Gitterfenster ihres Hauses aufhängt, dringt eines Tages eine Schlange. Diese hat sich „bis zum Hals ins Innere des Käfigs gebohrt, ohne dass derselbe auseinandergebrochen war“. Einen der beiden Vögel beißt sie tot; der zweite überlebt, weil der Student Okada zufällig vorbeikommt, die Schlange zerhackt und das Loch im Gestänge zubindet. So kann der zweite Vogel nicht entwischen.

Vormodernes Frauenbild

Ein bedeutsamer Zwischenfall, der zeigt, dass der Autor Mori Ogai (1862–1922) mit psychoanalytischer Symbolik wohl vertraut war. Der Käfig und die eindringende penisförmige Schlange versinnbildlichen Otamas missliche Lebenslage. Dass auch Okada sie nicht aus ihrem Gefängnis befreien wird, ahnt man bereits, als er das Loch im Vogelbauer flickt und den zweiten Vogel auf diese Weise am Wegfliegen hindert. Wie sein Protagonist Okada es plant, hat auch Mori Ogai in den 1880er Jahren in Deutschland Medizin studiert.

In Berlin erinnert die Mori-Ogai-Gedenkstätte an ihn, und in „Auerbachs Keller“ in Leipzig, wo er verkehrte, hat man ihn 2009 in einem farbenprächtigen Wandgemälde verewigt. Seine Eindrücke von Deutschland hat der junge Mori in seinem „Deutschlandtagebuch“ festgehalten. Nach seiner Heimkehr übersetzte er Goethe und andere deutsche Dichter erstmalig ins Japanische und verarbeitete seine Studienzeit in drei „Deutschen Novellen“.

Mori Ogai liebte die Literatur, und dies spiegelt sich in seinen Werken wider. So geht Otamas Vater regelmäßig in die Leihbücherei, und auch Okada stöbert gern in Antiquariaten. Er interessiert sich für traditionelle, vor allem chinesische Werke. Mit großer Ausdauer liest er das „Shoseiden“ über eine schöne, aber hinfällige Frau. Sein Frauenbild ist noch ganz vormodern, für ihn sind sie „nichts als leibhaftige Anmut, deren Bestimmung die Liebe ist“. Dieses Frauenbild geistert bis heute durch japanische Romane, und auch Otama wird trotz einer vermerkten „Lust zur Selbstständigkeit“ an diesem Bild nicht rütteln.

Da ist der Erzähler, Okadas Freund, schon ein paar Schritte weiter. Er ist ein moderner Literat und versteht es auf erstaunliche Weise, den einzelnen Figuren psychologische Tiefe zu geben. Otama ist nicht nur das eingesperrte Vögelchen, sondern eine Frau, die eine gewisse Gerissenheit erlernt. Suezo ist nicht bloß der lüsterne Wucherer, sondern ein Mann, der im Zusammensein mit Otama ganz zarte Seiten an sich entdeckt. Nur Okada selbst bleibt ein bisschen blass.

Die Übersetzung von Fritz Vogelgsang aus den 60er Jahren hätte man etwas auffrischen sollen. Abgesehen davon ist es sehr gut, dass „Die Wildgans“ endlich wieder gelesen werden kann, nachdem sie jahrzehntelang vergriffen war.

Mori Ogai: „Die Wildgans“. Aus dem Japanischen von Fritz Vogelsang. Manesse Verlag, Zürich 2012, 240 Seiten, 17,95 Euro