Diese ferne Angst

KIOTO Zu Gast in der Villa Kamogawa im Frühling 2011

„Vor mir war die dunkelste Skyline, die ich je gesehen hatte“

VON LUCY FRICKE

Die Tage nach dem 11. März verbrachte ich vor dem Liveticker und Fernseher. Ich schlief kaum und wachte immer mit der Frage auf: Ist es jetzt explodiert? Mein Flug nach Japan sollte am 15. April sein, von Freunden war die erste Frage stets: Fliegst du jetzt? Wahlweise: Du fliegst doch nicht etwa? Alle waren plötzlich Experten. Nachbeben, Vorbeben, Gendefekte, Schilddrüsenkrebs. Auf keinen Fall sollte ich ohne Geigerzähler fliegen. Mein Hausarzt gab mir Jodtabletten, die ganze Praxis wurde auf den Kopf gestellt, bis die letzte Packung gefunden wurde. Kioto liegt 800 Kilometer von Fukushima entfernt. Ob ich glauben würde, dass sich Strahlung von Präfekturgrenzen aufhalten ließe, wurde ich gefragt. Ich wusste längst nicht mehr, was ich glauben sollte.

Jeden Tag kamen neue Nachrichten, neue Risse, neue Lecks. Nichts war unter Kontrolle. Ich telefonierte mit dem Goethe-Institut in Kioto, mit der Botschaft in Osaka, mit dem Auswärtigen Amt, und als nichts schlimmer wurde, flog ich. Das Flugzeug war halb voll und machte den Eindruck, als würde es gleich auseinanderfallen. Ich fragte mich, ob die Fluggesellschaft es danach verschrotten würde. Zu meiner Überraschung landeten wir zehn Stunden später pünktlich in Osaka. An der Passkontrolle für Ausländer warteten zwei Chinesen. So schnell war ich noch in kein Land eingereist. Mit dem Zug fuhr ich weiter nach Kioto, zur Villa Kamogawa, wo ich als erste Stipendiatin einziehen sollte. Die Freude und ungeahnte Dankbarkeit, mit der ich dort empfangen wurde, lösten schlagartig alle Zweifel an meiner Entscheidung auf. Auch dann noch, als sie mir im Apartment zuerst den Schutzhelm und die Taschenlampe zeigten, den Weg zum Evakuierungszentrum auf der anderen Flussseite erklärten und rieten, mich bei einem Beben in den Türrahmen zu stellen.

Die ersten drei Tage hatte ich jede Menge Pressetermine, ein Fernsehteam kündigte sich an. Es war allein die Tatsache, dass ich ein Flugzeug bestiegen hatte, Grund für die Begeisterung. Das fühlte sich damals schon bizarr an und im Rückblick erst recht. Fast ausschließlich ging es um die Fragen, wie Japan mir gefällt, ob ich denke, dass das Image von Japan gelitten hat, ob meine Familie mich von der Reise abhalten wollte. Danke, dass Sie gekommen sind, sagten sie, und lächelten über ihre Traurigkeit hinweg.

Im Supermarkt gab es tatsächlich kein Wasser, zumindest nicht in großen Flaschen, die standen erst Mitte Mai wieder in den Regalen, und dann Sorten aus aller Welt. Japan wurde zu einem enormen Absatzmarkt für Mineralwasser, hatte man sich doch vorher hauptsächlich aus der Leitung bedient. Und überall Spendenboxen, an jeder Kasse. In der Lebensmittelabteilung des größten Kaufhauses gab es eine Ecke mit Obst und Gemüse aus dem Norden. Ein paar alte Frauen kauften dort ein, die anderen warfen lieber Geld in die Box.

In der ersten Woche saßen wir in einem Lokal und ich musste daran denken, dass ich einem Freund versprochen hatte, keine Algen zu essen, die jetzt aber in einem kleinen Schälchen vor mir standen. Was los sei, fragten meine beiden Begleiterinnen, und dann sagten sie: Aber die sind doch eingelegt. Bestimmt schon im Februar wurden die eingelegt, wenn nicht schon im letzten Jahr, und dabei fingen sie zu kichern an. Besser noch wären natürlich die getrockneten Algen, die sind ja uralt, und dann gibt es schließlich noch Natto, die fermentierten Sojabohnen, die sind nun wirklich gar kein Problem. Und wie das manchmal so kommen kann, lachten wir plötzlich wie eine alte Mädchenclique. Ich glaube, das war der erste Scherz, den sie über Fukushima machten, und es sollte während dieser Zeit der einzige bleiben.

Immer wieder sahen wir das verschwommene Bild vom Kraftwerk, Staatsmänner, die in frische Tomaten aus der Region bissen, hörten neue Erklärungen von Tepco, die niemanden mehr interessierten, das Eingeständnis von Kernschmelzen in drei Reaktoren. Es änderte sich erst mit der Regenzeit im Juni und dem Beginn der Taifunsaison. Selbst ich spürte eine Erleichterung, obwohl mir auch solche Katastrophen nicht vertraut waren. In diesen Monaten wurde vieles zum Alltag, die Nuklearwerte, das permanente Risiko, dass die Fukushima-Ruine dem Regen und Wind nicht standhält, die Angaben über den aktuellen Stromverbrauch. In Tokio stand es auf nahezu allen öffentlichen Monitoren, wie knapp die Stadt vor einem Blackout steht. Es hieß, bei 98 Prozent Verbrauch würde ein Alarm losgehen. Alle Firmen und Haushalte wurden angeschrieben, mindestens 20 Prozent Strom zu sparen, zur Rushhour wurden Beleuchtung und Rolltreppen vorsorglich ausgeschaltet, die Klimaanlagen liefen auf halber Kraft, und die Angst vor dem Sommer ging um.

Als wir an einem Abend mit der führerlosen Bahn nach Odaiba fuhren, zwischen den gigantischen Bürotürmen hindurch, war fast nirgends Licht. Wir saßen in der Bucht von Tokio, von der man sagte, der Ausblick auf die Skyline sei schlicht umhauend, und das war er auch, nur in ganz anderer Art. Vor mir war die dunkelste Skyline, die ich je gesehen hatte. Im Wasser spielten Kinder, wir hockten im Sand, tranken Dosenbier, sagten: Gott, ist das dunkel, und sprachen nicht von dieser fernen Angst, die uns das machte. Vor meiner Abreise aus Kioto hatten sie mir geraten, eine Taschenlampe mitzunehmen. Ich bekam die Bilder, die ich von Tokio kannte, nicht zusammen mit dem, was ich sah. Tokio war leise und dämmrig und lief weiter wie eine Maschine. Nur dass immer irgendwer fragte: Hast du das auch gespürt? Doch ich spürte nichts, diese dauernden kleinen Beben, die ständige Vibration merkte ich nicht, weil ich nie ein Erdbeben erlebt hatte, mein Körper hatte keine Erinnerung daran. Ich hörte nur das Knacken der Fensterscheiben im 14. Stock.

Lili Marleen zum Abschied

Bei meiner Reise durch den Süden gab es überall den Arigato-, den Danke-Discount. Danke, dass Sie uns besuchen, trotz Regenzeit und Nuklearkatastrophe. Es gab freie Betten, Plätze und Tische, in der Touristeninformationen sangen mir die Männer „Lili Marleen“ vor. Der internationale Tourismus war angeblich um 80 Prozent eingebrochen, was ich mir kaum vorstellen konnte – ich sah die 20 Prozent nicht. Der Reiseführer schien von einer längst vergangenen Zeit zu sprechen. Bei den meisten Sehenswürdigkeiten und Weltkulturerbestätten riet er dringend zum frühzeitigen Erscheinen, sprach von regelmäßiger Überfüllung, doch ich stand selbst am Goldenen Tempel allein. Die japanischen Schulklassen mal ausgenommen, die mussten da schließlich hin. Mitte Juni sah ich den ersten Backpacker durch die Straßen von Kioto gehen, und fast wäre ich auf ihn zugerannt, hätte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: Schön, dass du da bist. Einfach nur ein Typ mit Rucksack, ein Tourist aus dem Westen, einfach nur ein „Es geht weiter“.

Das muss es bekanntlich immer, egal, was sich in der Zwischenzeit alles geändert hat: Das Vertrauen in die Regierung war verschwunden, hatte sich in Wut, wenn nicht Verachtung gewandelt. Demonstrationen, Bürgerinitiativen, Hilfsprojekte. Tausende Menschen in Notunterkünften. Die Verstrickungen von Politik, Medien und Atomindustrie wurden immer klarer, niemand glaubte mehr etwas. Die Heiratsquote begann zu steigen.

Als ich Ende Juli zurückkam nach Berlin, fragte man mich in der Nachbarschaft, wo ich so lange gewesen sei. Und als ich Japan sagte, sagten sie: Japan! Toll! Das soll doch so schön sein. Es folgte eine kurze Stille und schließlich: Japan?

Lucy Fricke ist Schriftstellerin. Ihr zweiter Roman „Ich habe Freunde mitgebracht“ erschien 2010. Im Frühjahr 2011 war sie die erste Stipendiatin der Villa Kamogawa, der Künstlerresidenz des Goethe-Instituts in Kioto