Für Bombays Vision rollen die Bulldozer

Plötzlich ist das chinesische Schanghai zum Maßstab avanciertNur noch die Slums scheinen den Blick auf die Vision zu versperren

AUS BOMBAY BERNARD IMHASLY

Nach den Wahlen kommen die Bulldozer. So war es zuletzt am 8. Dezember 2004, einige Wochen nach der Landtagswahl im Gliedstaat Maharashtra, als vor einem Dutzend Armensiedlungen in der Hauptstadt Bombay unter starkem Polizeischutz Bulldozer auffuhren und mit der Zerstörung der Hütten begangen. Nicht in allen Fällen waren die Slumbewohner informiert worden und viele konnten nicht einmal ihren Hausrat retten.

Die Tabula-rasa-Aktion gegen die illegalen Siedlungen stieß bei den lokalen Eliten auf Sympathien. Erst Ende Januar formierte sich der Widerstand, als sich zeigte, dass für die allermeisten Obdachlosen gar keine (Not-)Unterkünfte bereitstanden. Die meisten mussten sich irgendwo auf offener Straße niederlassen. Als die Regierung die Aktion Mitte Februar „vorläufig“ abbrach, waren 91.000 Hütten zerstört. Die Stadt hatte nicht weniger Einwohner – aber 350.000 Obdachlose mehr.

Die Aktion diente in erster Linie der Abschreckung neuer Migranten. 58 Prozent der 12 Millionen Einwohner der Gemeinde Bombay leben – auf 13 Prozent des Lebensraums – in Slums. Seit Jahrzehnten ist Indiens Wirtschaftsmetropole ein Magnet und vor allem ein Fluchtpunkt der Migration geworden. Jedes Jahr verlassen mehrere hunderttausend Menschen in Dörfer in Indien, Nepal oder gar Bangladesch, weil sie in der Landwirtschaft nicht mehr genug Arbeit finden, um zu überleben.

Die enorme Wirtschaftskraft der Stadt – vierzig Prozent des Steueraufkommens werden im Großraum Bombay generiert – lässt diese Menschen dort überleben. Doch sie ist ein vergiftetes Geschenk, denn wenn sie ihnen Jobs gibt, so entzieht sie ihnen gleichzeitig ihr Obdach. Der Boom hat in der von drei Seiten meeresgesäumten Stadt die Bodenpreise an die Weltspitze hochgeschraubt. Sie machen jeden sozialen Wohnungsbau zum unbezahlbaren Luxus. Die Bereitstellung von billigen Wohnungen ist seit Jahrzehnten Teil der „Slum Clearing“-Politik, doch keiner der zahlreichen staatlichen und privaten Anläufe hat sich bisher durchgesetzt.

Auch die Bulldozer-Einsätze sind bisher alle gescheitert. Der Grund liegt aber nicht nur in der Unfähigkeit der Behörden, den Obdachlosen Wohnalternativen zu bieten. Das einzige Machtmittel, über das Slumbewohner verfügen, ist ihre Stimme an der Wahlurne. Politiker sorgen dafür, dass Migranten einen Wahlausweis bekommen. Für ihre Stimme versprechen sie ihnen Gebietsschutz, falls wieder einmal eine Säuberung gegen die – meist auf öffentlichem Land siedelnden – Slums droht. Doch der Deal hat seinen Preis. Viele Slums werden von „Slumlords“ beherrscht, die den Politikern die Stimmen organisieren, aber den Zugezogenen für jeden Quadratmeter „Mieten“ abknöpfen. Die Unsicherheit bleibt. Jede Wahl und jeder Regierungswechsel kann eines Morgens plötzlich den Bulldozer vor der Blechhütte auffahren lassen.

Die Slumbewohner mögen zählen, wenn es zum Wahltag kommt, doch im Alltag zwischen Urnengängen wirken andere Kräfte. Im Bewusstsein der Mittelklasse und Oberschicht der Stadt werden Slums nicht als Teil der Stadt, sondern als „Krankheitsherd“ wahrgenommen und ihre Bewohner als illegale Besetzer. Die Einsicht, dass die Stadt ohne die Slumbewohner gar nicht leben könnte, ist kaum vorhanden.

Die wirtschaftliche Öffnung Indiens hat nicht nur Menschen und Kapital in das Finanzzentrum des Landes geschwemmt. Mit ihnen kam auch der Ehrgeiz, es anderen Weltstädten an Glanz und Reichtum gleichzutun. Bombay soll, in den Worten von Finanzminister P. Chidambaram, „zu einem globalen Finanzzentrum zwischen London und Tokio werden“. Es war Schanghai, mit Bombay von alters her über Handelsverbindungen verbunden, das plötzlich zum Maßstab avancierte. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der sich die chinesische Stadt in eine moderne Weltstadt verwandelt hat, zählt dabei mehr als die Brachialgewalt, die dafür eingesetzt wurde. Selbst Premierminister Manmohan Singh, sonst für seine Sorge um soziale „Inklusivität“ bekannt, ließ sich noch im Januar zum Ausruf hinreißen, Bombay müsse „bis 2020 Indiens Schanghai werden“.

„Bombay First“, eine Lobby-Organisation von Industrieführern, Intellektuellen und Freiberuflern, bestellte bei der Beratungsfirma McKinsey eine Studie, die der Stadt nun als Entwicklungsplan dienen soll. Laut dieser „Vision Mumbai“ sollen für 320 Milliarden Rupien (rund 15 Milliarden Euro) die Slums durch riesige Wohnsiedlungen nördlich der Stadt ersetzt werden. Fabrikareale würden in Parks und Luxuswohnungen umgewandelt, die Hafenanlagen erneuert, und breite Transportstränge für Bahn und Schifffahrt sollen den riesigen Pendlerstrom bewältigen, der bereits heute täglich 2,2 Millionen Menschen in die Züge zwängt. Doch Bombay ist nicht Schanghai. Die Slumsäuberungen haben den Widerstand unter NGOs und in den Medien gegen diesen Plan mobilisiert. In den Worten des UNO-Berichterstatters für Wohnungsbau, Miloon Kothari, folgt der Plan „einer brutalisierten neoliberalen Logik, die Wachstum mit der Gesundheit einer Stadt gleichsetzt“.

Wenn es „Bombay First“ wirklich um eine gesunde Stadt ginge, sagt auch Ujjwal Uke, der ehemalige Chef der Slum-Umsiedlungs-Behörde, würde die Lobbygruppierung anerkennen, dass es in der Stadt genügend Land gibt, um alle Slumbewohner in anständigen Kleinwohnungen unterzubringen. Tatsächlich liegen im Herzen der Stadt rund 2.000 Hektar ungenutztes Land. Dazu gehören auch die großen Landparzellen der 58 Textilfabriken, für die ein zwei Jahre dauernder Streik zu Beginn der Achtziger Jahre der Todesstoß gewesen war und die seitdem langsam zerfallen. Vor vierzehn Jahren hatte die Regierung die Besitzer – je zur Hälfte private und staatliche Firmen – aufgefordert, das Land baulich zu entwickeln. Die vorgegebene Formel lautete: ein Drittel für staatliche Sozialwohnungen, ein Drittel für öffentliche Parks, Schulen und Spitäler, und das letzte Drittel bleibt den Besitzern für den Bau von Wohnungen, Einkaufszentren und Büros.

Während zehn Jahren geschah nichts. Der Grund lag im städtischen Gesetz über Bodenbesitz, das verbietet, dass bei der Erschließung der Fabrikareale bestehende Bausubstanz angetastet wird. Dann wurde im Jahr 2001 die Verordnung von 1991 plötzlich und ohne Öffentlichkeit geändert. Der Verteilschlüssel betraf nun nur noch das unbebaute Gelände, während die bestehenden Bauten allein den Besitzern zufielen. So reduzierte sich der Anteil für öffentliche Anlagen auf 17 Prozent und jener für Sozialbauten auf beinahe null.

Nun sah der Immobilienmarkt Renditemöglichkeiten und erwachte. In den letzten drei Jahren kam es in den alten Fabrikbezirken von Midtown Bombay zu einer rasanten Bautätigkeit. Die Skyline änderte sich zwar nicht so rapide und radikal wie in Schanghai, denn die Besitzer durften die Fabrikhallen weiter nicht abreißen. Doch nichts hinderte sie mehr, sie zu Lofts, Büros, Galerien, Kegelbahnen, Restaurants, Hotels und Wohnungen auszubauen. Zusammen mit einem Bauboom in den nördlichen Vororten schien dies der Stadt plötzlich Luft zu geben. Die hohen Büropreise, die Bombay zeitweise mit Tokio wetteifern ließen und immer mehr Firmen aus der Stadt vertrieben, sanken und stabilisierten sich.

Nur noch die Slums versperrten den Vertretern von „Bombay First“ den Blick auf ihre „Vision Mumbai“. Die Besitzer der Fabrikareale gaben keine Parzellen für Billigwohnungen her, und die Slums vermehrten sich weiter. Doch statt die Bauindustrie an ihre Verpflichtung für öffentlichen Raum und Sozialbauten zu erinnern, ereiferte sich die Elite in ihrer Denunziation der Slumbewohner, „als wären diese“, so Ujjwal Uke, „nicht auch Bürger dieses Landes, die hier ihrer Arbeit nachgehen und Mieten zahlen – wenn auch dem Slumlord statt dem Staat“. Narinder Nayar, der CEO von „Bombay First“, anerkennt zwar die Pflicht des Staats zur Behausung seiner Bewohner. „Doch zur Abschreckung vor weiteren Siedlungen müssen die bestehenden zerstört werden. Da gibt es keine Diskussion. Sie sind illegal und dürfen nicht weiter legalisiert werden. Wenn jemand Hunger hat, gibt ihm dies denn das Recht, Brot zu stehlen?“

Für den international renommierten Stadtplaner und Architekten Charles Correa hingegen haben die Reichen der Stadt versagt. „Die Drittelformel war eine einzigartige Chance, im historischen Zentrum der Stadt neue Wohn-, Arbeits- und Freizeiträume zu schaffen, zusammen mit Schulen, Spitälern und neuen Transportanbindungen.“ Nichts davon sei am Entstehen, nur Büroräume und unerschwingliche Condominiums.

Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Nach dem Stopp der Slum- Säuberungen berief die Regierung eine Kommission mit Charles Correa als Mitglied. Sie soll die Frage der Wiederansiedlung der Slumbewohner neu aufrollen. Und sie soll die Erschließung der Fabrikareale einbeziehen. Bombay mag nicht so schnell wie Schanghai in den Himmel wachsen. Aber wenn die Menschen dabei auf dem Boden bleiben können, ist dies ist nicht unbedingt eine schlechte Nachricht.