In der falschen Inszenierung

Johannes Willms entmythisiert eindringlich Napoleons Leben. Aber er konzentriert sich zu sehr auf seinen Protagonisten, um dessen Erfolge und Scheitern erklären zu können

von ANDREW JAMES JOHNSTON

Kaum eine historische Figur ist im populären Bewusstsein so gegenwärtig wie Napoleon, keine wurde im Film so häufig dargestellt wie er. Dies ist durchaus kein Zufall, denn der Kaiser formte sein eigenes Bild sehr gezielt und schuf die Voraussetzungen dafür, dass es unverwechselbar ins kollektive Erinnerungsarchiv der modernen westlichen Gesellschaften einging: der kleine, rundliche Mann im grauen Mantel, den Zweispitz auf dem Kopf.

Die Art, wie Napoleon seine Kaiserikonografie entwarf, die ostentative Schlichtheit des großen Genies, wurde stilbildend und mehrfach nachgeahmt – auch und gerade von Politikern, die im Gefolge von Revolutionen an die Macht kamen oder zumindest diesen Anschein zu erwecken suchten. Damit war der Kaiser der Franzosen zugleich Schöpfer und Medium seines Propagandakults. Nachdem er in den hundert Tagen des Jahres 1815 zum zweiten Mal und wieder durch fatale eigene Fehler gescheitert war und die Propagandaeffekte sich gründlich abgenutzt hatten, taten ihm ausgerechnet die Alliierten den Gefallen, ihn auf eine Insel im Südatlantik zu verbannen, auf der er sich im Sinne eines prometheischen Martyriums inszenieren und seinen fast schon verblichenen Mythos wiederbeleben konnte.

Es ist das Verdienst von Johannes Willms, dass er dieser Legende in seiner jetzt vorgelegten Napoleon-Biografie nicht verfällt: Gerade die theatralisch-propagandistischen Aspekte Napoleons werden eindringlich geschildert und entmythisiert. Willms strukturiert sein Material geschickt: Stärken und Schwächen Napoleons werden bereits in der Aufstiegsphase differenziert dargestellt, sodass Napoleons Abstieg klug gerafft werden kann. So erfahren wir, wie Napoleon vom kleinen Artillerieleutnant in der Provinz erst zum korsischen Freiheitskämpfer, dann zum jakobinischen Revolutionär und schließlich zum Garant der postrevolutionären Ordnung und Besitzverteilung mutiert.

Willms beschreibt kundig und ausführlich Napoleons Triumphe als Kommandeur der Italienarmee 1796/97, aber auch den Fehlschlag in Ägypten, aus dem Napoleon sich einfach absetzt, als klar wird, dass die Lage der Armee aussichtslos ist. Schon beim nur knapp geglückten Staatsstreich von 1799, durch den sich Napoleon an die Spitze des Staates putscht, zeigt sich sein mangelndes Talent, sich auf politische Bedingungen einzustellen und die Interessen von Verbündeten wie Gegnern zu bedenken. Dies, so Willms, zwingt Napoleon in eine Spirale ständiger militärischer Machtausdehnung, die trotz immer neuer spektakulärer Erfolge unweigerlich ins Verderben führt. Die Schwächen der napoleonischen Staatskunst erweisen sich dort, wo administrative und militärische Mittel nicht greifen, erweisen sich vor allem dort, wo Macht nicht bloß erobert, sondern langfristig gesichert werden muss.

Doch hier manifestieren sich nicht nur die Grenzen des napoleonischen Machtsystems, sondern auch die der Willms’schen Biografik. Indem er Napoleon vor allem als machtbesessenen korsischen Egozentriker präsentiert, der allein die eigenen Wünsche und Ziele – und mitunter die seiner vielen Geschwister – im Blick hat, verliert auch Willms die Bedingungen für Erfolg und Misserfolg aus den Augen. Es sieht am Ende so aus, als sei Napoleon nur an seinem realitätsblinden Machthunger, sprich: an sich selbst gescheitert. Das ist ein bisschen wenig, denn man wüsste doch gern, wie sich dieser Machthunger überhaupt entfalten konnte, warum er so lange erfolgreich blieb, welche Kräfte und Strömungen in Kultur und Gesellschaft ihn ermöglichten, ihm Plausibilität verliehen und ihn zum Schluss in die Schranken wiesen.

Dabei hätte es sicherlich geholfen, wenn Willms auf die unterschiedlichen Perspektiven eingegangen wäre, aus denen Napoleon schon zu Lebzeiten und erst recht von der späteren Forschung gesehen wurde. Auch eine Biografie, die sich mehr an gebildete Laien als an Historiker wendet, sollte vermitteln, dass ihr Gegenstand vor allem Produkt konkurrierender Interpretationen der Wirklichkeit ist. Napoleon wirkte hier in einem Spannungsfeld, und Willms stellt viel zu selten die Frage, wie sich Napoleons Interpretation der Wirklichkeit formte und entwickelte, wie sie sich mit den Interpretationen der Zeitgenossen deckte und weshalb sie es irgendwann nicht mehr tat – mit der Folge, dass der Kaiser stürzte.

Johannes Willms: „Napoleon. Eine Biographie“. C. H. Beck Verlag, München 2005, 840 Seiten, 34,90 Euro