Luxus für die Massen

1980ER Nach langer Sinnesfeindlichkeit zelebriert Deutschland den Geschmack. Vor allem: Lachs

■ Die Serie: Mangel, Wirtschaftswunder, Globalisierung. Oder anders: Beefsteak ohne Beef, Sahnetorte, Toast Hawaii. Mit einem Blick auf die Teller des letzten Jahrhunderts versucht die sonntaz in den kommenden Wochen, die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu erklären. Genauer: mit einem Blick auf jenes Gericht, das im jeweiligen Jahrzehnt besonders gern und viel gegessen wurde. Wie spiegeln Küchentöpfe die Zeit, in der man lebte? Was verraten sie über politische und wirtschaftliche Situationen von damals? Diesmal: Die achtziger Jahre. Westdeutschland ist reich, hat die Lust am Genuss entdeckt. Am gezügelten. Dem in Häppchen. Der Räucherlachs liegt auf wenig Brot, der Champagner wird ins Kraut gegossen, damit „Champagnerkraut“ entsteht. Übernächste Woche, Teil 6: die Neunziger. Deutschland wird mediterran, liebt kein Dessert mehr als das mit den Biskuitlöffeln: Tiramisu.

■ Das Jahrzehnt: Aids, Friedensbewegung, Falklandkrieg, Tschernobyl, „Die Wolke“, Waldsterben, Wackersdorf, Gorleben, Schwerter zu Pflugscharen, Lech Walesa, Solidarnosc, Gorbatschow, Perestroika, Ausreiseantrag, Lockerbie, Nicaragua, Thatcher, Reagan, Mitterand, Genscher, Grüne, Kohl, Weizsäcker, Barschel, Honecker, Kelly, Turnschuh-Minister, Spontis, Fundis, Realos, Hausbesetzer, Yuppies, Leggins, Kokain, Hitler-Tagebücher, Historikerstreit, Volkszählungsboykott, RAF, „Die bleierne Zeit“, Berlinzulage, Begrüßungsgeld, Herbst 1989, Mauerfall, Thomas Bernhard, Derrida, Foucault, Keith Haring, „Dallas“, „Mad Max“, „Miami Vice“, „Terminator“, „E.T.“, „Himmel über Berlin“, Jim Jarmusch, Greenaway, Nastassja Kinski, Schimansky, Funk, New Wave, Grace Jones, Depeche Mode, The Cure, HipHop, Graffiti, Tom Waits, Spliff, Rainbirds, Nina Hagen, Madonna, Maradona, Boris B., Steffi G., Privater Rundfunk, Video, CD, Walkman, Mac, C64, Mikrowelle, Bioladen, Müsli, Heiße Hexe.

VON TILL EHRLICH

Das Westdeutschland der Achtziger ist aus heutiger Sicht unglaublich reich, ein wenig provinziell auch. Und doch: Damals gab es ein breites Interesse für differenziertere Ernährung und kulinarischen Genuss. Für das Geburtsland der Reformation, dessen protestantische Moral und Sinnesfeindlichkeit bis dahin en vogue war, ist das schon eine gewisse Sensation.

In den achtziger Jahren adaptiert der Mainstream den bourgeoisen Luxus als Massenkonsum. Luxus bedeutete einst Edelküche und teure, seltene Zutaten. Nun wird alles neu angerührt und abgeschmeckt.

Der Glanz ist keineswegs echt, es geht um Image, um Statussymbole, nicht um echte, sondern falsche, um Strass und Glitzerkram; Duran Duran statt Led Zeppelin, Don Johnson statt Marlon Brando, „Dallas“ und „Miami Vice“ statt „Taxi Driver“ und „Chinatown“, Yuppies statt Hippies, Baguette statt Roggenbrot. Und so wird auch getrunken und gegessen und gefeiert: viel Schampus im Glas, viele Austern auf dem Teller, viele Lachshäppchen.

Champagner wird sogar ins deutsche Kohlgemüse gegossen, um es als Champagnerkraut zu verfeinern. Kraut, das deutscheste, schwerfälligste aller Gemüse, wird mit französischem Esprit aufgeschäumt. Und Austern, einst ein großbürgerliches Symbol der Dekadenz, werden über Nacht aus der Bretagne eingeflogen, am nächsten Morgen lebend am „Austerntresen“ im Berliner Kaufhaus des Westens verspeist und mit Chablis runtergespült.

Der genussfleißige Konsument ist verführbar, weil er nicht richtig im Thema steckt, sich zu lange nicht für die Herkunft der Lebensmittel interessiert, blind der Foodindustrie vertraut hat. Auch die Edelhäppchen halten kaum, was sie versprechen.

Der Lachs war in Deutschland spätestens seit den Fünfzigern ausgestorben; eine Folge der Industrialisierung. Nun kommt er zurück, aus Lachsfarmen, deren Massenaufzucht die Fische krank macht und das Meer verschmutzt. Biolachsfarmen spielen in den Achtzigern nur marginal eine Rolle. Lachse werden die Masthähnchen des Meeres.

Das Fleisch des konventionellen Zuchtlachses ist zu fett, weil sich der Wanderfisch in der Massenhaltung kaum bewegen kann. Auch seine Farbe: unnatürlich, sie ist nicht wie bei Wildlachsen lachsrot, mit einem zarten Graurosaton, sondern sie ist aufdringlich Quietschorange – den Fischen wird in der Turbomast auch der Farbstoff Karotin verabreicht.

Am populärsten in jener Dekade: der Lachs als Fertigprodukt, als Räucherlachs. Oder salzig-süß gebeizt: als Graved Lachs.

Es geht um Status, um Glitzerkram, Yuppies, „Miami Vice“. So wird auch gefeiert: viel Schampus, viel Lachs

Hobbyköche kaufen sich dünne, lange Lachsmesser und säbeln die Scheiben hauchdünn von der Lachsseite ab. Schwarze Teller sind in Mode, darauf werden die Scheibchen gelegt und bevorzugt mit Senf-Dill-Sauce oder Kräuterquarkcreme serviert, mit Kartoffelrösti oder Crêpes aus Buchweizenteig.

In der Spitzengastronomie prägt Eckart Witzigmann das Jahrzehnt. Das sogenannte deutsche Küchenwunder hat – blickt man heute zurück, wo der Genuss wieder moralischer ist – etwas Befreites, Offenes. Der Genuss ist nicht hemmungslos wie in den Fünfzigern, sondern gezügelt. Die Portionen sind klein, man legt Wert auf Leichtigkeit. Gemüse wird nicht mehr weich, sondern bissfest gekocht, „al dente“ mutiert zum Kampfbegriff. Witzigmann und seine Koch-Epigonen versuchen sich mit französischen Küchentechniken an deutscher Regionalküche. Und: Die neue Gastronomie steht im Fokus, ihre mediale Bedeutung ist von Anfang an größer als ihre wirtschaftliche.

Zu den Profiteuren der Genusstrends zählt – wieder mal – die Foodindustrie, die nun Edel-Convenience am Markt etabliert. Gourmetköche sind plötzlich Testimonials, wie sich an der Geschichte der Mousse au Chocolat ablesen lässt: Zuerst wird sie von Frankreich nach Deutschland getragen, wo sie von Spitzenköchen einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt – am Ende ist sie als Convenienceprodukt im Supermarktregal. Wo sie noch zu finden ist.

Protagonisten wie der einstige Pressezeichner Wolfram Siebeck und politische Journalist Gert von Paczensky haben da längst auf Gastronomiekritik umgeschaltet und zählen jetzt endgültig zu kulinarischen Instanzen; die schon 1972 als Kochrezeptesammlung gestartete Zeitschrift essen & trinken entwickelt sich zum Sprachrohr des neuen Ess-Interesses.

Dabei steht Frankreich Pate: Die Lust am feinen Genuss wird noch von französischer Küche und Lebensart, als „savoir-vivre“ alimentiert. Die deutschen „Fresspäpste“ predigen mit pädagogischem Eifer, verdammen die deutsche Regionalküche pauschal als Hausmannskost, die zu bieder, fantasielos und karg sei, von Mehlsoßen verdorben.

Besonders die wunderbare süddeutsche Regionalküche wird verkannt. An ihrer Stelle werden französische Küche und Produkte propagiert: trockene Weine wie Chablis und Sancerre, Produkte wie Crème fraîche und Rohmilchkäse. Wein aus deutschen Regionen kann an dem immensen westdeutschen Wohlstand nicht partizipieren, die deutsche Weinwirtschaft gerät in ihre größte Krise seit 1945.

■ Zutaten:2 TL Fenchelsaat 2 TL Senfkörner 3 TL Pfefferkörner, weiß 1 Lorbeerblatt 2 TL Wacholderbeeren 2 TL Korianderkörner 200 Gramm frischer Dill 300 Gramm Meersalz, grob 200 Gramm Zucker 1 Kilo Bio-Lachsfilet, mit Haut 4 EL Öl

■ Rezept:Alle Gewürze im Mörser zerstoßen, dann Salz und Zucker zugeben, weiter mörsern. Dill waschen, trockenschütteln, grob hacken. Lachs mit kaltem Wasser abspülen, trockentupfen, auf die Hautseite legen. Mit der Salz-Zucker-Kräuter-Mischung bedecken, andrücken. In ein flaches Gefäß legen, auf den Fisch ein Küchenbrett legen und es mit Töpfen beschweren. Einen Tag kalt stellen. Den Fisch aus der Beize nehmen, die Beize mit einem Messerrücken abschaben. Die Lachsseite mit Öl einreiben, in Klarsichtfolie wickeln und nochmals sechs Stunden kalt stellen. Zum Servieren die Folie entfernen, sehr dünne Scheiben vom Lachs abschneiden. Dazu passen Blattsalate, Senf-Dill-Sauce oder Sahnemeerrettich, Baguette oder Rösti.

Obgleich die Weinkonsumenten trockenere Weine verlangen, wird noch Anfang der Achtziger die Süßweinwelle geritten, das Geschmacksprofil vieler deutscher Weine entstammt der Nachkriegszeit, in der Wein vor allem billig und süß sein musste.

Der Anachronismus führt zu den Weinskandalen Mitte der Achtziger – und zu einem beispiellosen Image- und Preisverfall. Das Vakuum füllen wiederum französische und italienische Erzeuger.

Die Multiplikatoren aber, die sich Journalisten nennen, haben gut für Frankreich getrommelt und Alternativen ignoriert – wie die sich entwickelnde Bioszene, die zunehmend mit eigenen Produkten, Läden und Märkten präsent ist.

Oft ist das neue allgemeine Interesse am Genuss als Hedonismus abgewertet und missverstanden worden. Ob so die Verfeinerung des deutschen Geschmacks begann – oder jene nur Ausdruck einer Gesellschaft war, die satt war und es sich schlichtweg leisten konnte, wählerisch zu sein, ist die Frage. Auf jeden Fall wurden die Ernährungs- und Genussgewohnheiten damals individueller, sie wurden lustvoller – und sinnlicher.