„Arbeiten für den Mülleimer“

TAZ-Serie zur NRW-Wahl Teil III: Susanne Lerch unterrichtet Mathe und Physik an einem Gymnasium in Hamm und hat den Aktionismus der rot-grünen Bildungspolitik satt. Viele Reformpläne erscheinen ihr unausgegoren, dabei könnte mit Engagement und Entschlossenheit Schule so schön sein

„Die Einheitsschule ist ein Horrorgespenst, das mir vor Augen schwebt“

von KATHARINA HEIMEIER

Stufenmutti. Der Begriff hatte in der Jahrgangsstufe 12 am Hammer Galilei-Gymnasium so schnell die Runde gemacht, dass sich Susanne Lerch nicht dagegen wehren konnte. „Mutti, das hört sich nach einer Frau um die 50 an, die einen Kittel trägt und zehn Kinder am Rockzipfel hängen hat“, sagt die junge Lehrerin und verzieht das Gesicht.

Sie ist 33 Jahre alt, hat eine praktische Kurzhaarfrisur und trägt an diesem Tag einen rosafarbenen Pullover. Früher hat sie Volleyball gespielt, jetzt unterrichtet Susanne Lerch Mathe und Physik. Nein, eine Mutti ist sie ganz gewiss nicht. In den drei Jahren, die sie jetzt schon am Galilei-Gymnasium unterrichtet, hat sie durchgesetzt, dass aus der Stufenmutti immerhin eine Stufenmama wurde.

Die Schule selbst ist ein Kind aus der Zeit, als die SPD noch Politik für die Klassengesellschaft machte. Das war Ende der 60er, als die Schule für die Arbeiterkinder rund um die Zeche Radbod im Hammer Norden errichtet wurde. Damals waren Bockum und Hövel eigenständige Gemeinden. Heute gehören sie zu Hamm. Die SPD hat längst die neue Mitte entdeckt, der Schule ist jedoch der pragmatische Charme einer proletarischen Bildungsfabrik geblieben: Flachbau, fleckenneutraler schwarz-braun-weiß gesprenkelter Boden, abwaschbare grüne Türen und rot-braun gekachelte Wände.

Noch immer lernen hier Kinder aus Familien, in denen „beide Elternteile arbeiten“, wie Schulleiter Paul Brocker vorsichtig formuliert. „Das Gros der Eltern will, dass ihre Kinder einen höheren Bildungsabschluss machen als sie selbst.“

Als „wilden Aktionismus“ fasst Susanne Lerch die rot-grüne Bildungspolitik in ihrem Bundesland zusammen. Die Politik und ihre Konzepte für die Bildung beurteilt sie nach ihrem Wert für die Praxis: den Ausbau der Ganztagsschulen, wie ihn die SPD plant, die Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem, wie es die Grünen fordern, die Neueinstellung von 4.000 Lehrern, wie es die CDU angekündigt hat. Was heißt das konkret für den Unterricht? Was bedeutet das für die Schüler? Das sind die Fragen, die sich eine engagierte Lehrerin wie Susanne Lerch so manches Mal stellt. Und: Wie kann ich es sinnvoll umsetzen?

„Offene Ganztagsschulen können ein sehr gutes Angebot für viele Schüler sein. Aber wenn ich bis fünf Uhr an der Schule bin, brauche ich hier wenigstens einen vernünftigen Arbeitsplatz“, sagt die junge Lehrerin. Ihr Schulleiter Brocker sieht dies ähnlich pragmatisch. „Wir müssen hier nicht mittags um 13 Uhr die Hallen schließen. Aber zur Betreuung der Kinder brauchen wir Hilfe, zum Beispiel von Psychologen.“

Nachmittage lang hat Susanne Lerch mit den Kollegen in Konferenzen gesessen und versucht, die Ideen der Landesregierung sinnvoll umzusetzen. „Dann wurden die Pläne verworfen und unsere Arbeit war für den Mülleimer“, sagt sie. Dass das alles für die Katz war, frustriert sie. Dass die Landesregierung nun auch noch Pläne für das Zentralabitur schmiedet, macht ihr richtig Sorgen, denn sie hält die Pläne für schlichtweg „unausgegoren“. Während sie spricht, hat sie ihre Klasse stets im Blick. „Freunde, seid ihr etwa schon mit den Aufgaben fertig?“ fährt sie dazwischen, als zwei Jungs anfangen zu quatschen. Die ziehen die Köpfe ein und schreiben weiter. Susanne Lerch deutet auf die Schülerinnen und Schüler, die dabei sind, den Schnittpunkt zweier Geraden zu berechnen, und sagt: „Für jeden von ihnen, der die zwölfte Klasse wiederholen muss, wird es richtig kritisch.“ In der Stimme der Stufenmama schwingt Besorgnis mit.

Das Bild der typischen Lehrerfamilie, in der alle irgendwie unterrichten, stimmt bei Susanne Lerch nicht. Vielleicht hat sie die Liebe zu Zahlen vom Vater. Der arbeitet in der Versicherungsbranche, die Mutter ist Hausfrau und „ist immer für mich da“, wie die Tochter sagt.

Ihre Eltern wussten schon als Susanne Lerch ihr Abitur machte, dass sie als Lehrerin an die Schule zurückkommen werde. Zunächst entschied sich die junge Frau für ein Physikstudium an der Universität Dortmund. „Ich hatte dann die Wahl: Auto oder Wohnung.“ Bei der Entscheidung obsiegte ihr Sinn fürs Praktische über Gedanken der Emanzipation. Sie nahm das Auto – und blieb bei den Eltern wohnen. „Dadurch war ich einfach flexibler.“ Und näher dran an ihrer Heimat Hamm, den Freunden und eben auch der Familie. „Hier sind einfach meine Bezugspunkte“, sagt sie bestimmt. Experimente mag sie nicht wirklich, schon gar nicht im Urlaub. „Seit ich drei Jahre alt bin, fahre ich immer nach Langeoog. Das ist meine Erholoase.“

An der Uni war sie umgeben „von schon sehr speziellen Typen“, findet sie. Sie war eine von ganz wenigen Frauen in ihrem Studiengang. Nach dem Vordiplom belegte sie zusätzlich zur Physik noch Mathe und Pädagogik. Nach dem ersten Praxisversuch im Klassenzimmer war für sie klar, dass Lehrerin der richtige Beruf für sie ist.

„Ich habe mich da vorne vor der Tafel einfach wohl gefühlt.“ Leider sei diese Erfahrung viel zu spät gekommen. „Die späte Praxis ist ein echtes Manko an der Ausbildung.“

Nicht nur an der Uni war Susanne Lerch meist unter Männern, auch an ihrer Schule ist sie die erste und noch einzige Frau, die Physik unterrichtet. Doch das zeigt Wirkung. Inzwischen wählen immer mehr Mädchen in der Oberstufe einen Physik- oder Mathe-Leistungskurs. Es bringt nicht viel, nur davon zu reden, dass Frauen die Naturwissenschaften für sich entdecken sollten, findet ihr Mathe-Kollege Klaus Schwung: „Susanne Lerch verkörpert den Gedanken.“

„Mein Job als Lehrerin ist bombensicher, das empfinde ich als Luxus“

Wegen ihrer Fächerkombination Physik und Mathe ist die junge Pädagogin besonders vom rot-grünen Bildungsaktionismus betroffen. Ab dem kommenden Schuljahr wollen die Sozialdemokraten Physik, Chemie und Bio in der fünften und sechsten Klasse zu einem Fach zusammenlegen. Susanne Lerch hält das schlichtweg für unpraktikabel. „Chemie hatte ich im Studium, aber Biologie nicht. Ich hätte kein gutes Gefühl, wenn ich den Schülern lediglich zwei Seiten im Lehrbuch voraus wäre.“ Susanne Lerch hatte, bis sie Betreuungslehrerin der Jahrgangsstufe Zwölf wurde, keine eigene Klasse – und dann waren es auf einen Schlag gleich 71 Schülerinnen und Schüler. Die Jahrgangsstufe 12 ist der erste Jahrgang, den sie zum Abitur führen wird. Vielleicht erklärt das ein bisschen das besondere Verhältnis zwischen der jungen Lehrerin und ihren Zwölfern. Gemeinsam haben sie einen bunten Abend organisiert, an dem sie getanzt, Theater gespielt und gesungen haben. Susanne Lerch hat den Chor am Klavier begleitet, das kann sie gut, schließlich nahm sie mehr als zehn Jahre lang Klavierunterricht. Als sie die Stellenzusage vom Galilei-Gymnasium bekam, kaufte sie sich spontan ein Klavier. „Meine Stufe ist voller unentdeckter Talente“, schwärmt die Lehrerin über ihre Schützlinge. Die sagen, wie die 19 Jahre alte Christine, „die hängt sich voll rein“. Die 18-jährige Sarah nickt. „Als wir die Facharbeit geschrieben haben, hat sie extra einen Computerkurs angeboten und uns erklärt, wie das zum Beispiel mit dem Zeilenabstand geht.“

Und Frau Lerchs Matheklausuren? Sind die schwer? Die Antwort kommt schnell: „Ja!“ Das ist keine übertriebene Schülersicht, findet Mathelehrer Klaus Schwung. Er attestiert seiner Kollegin ein „deutliches Anspruchsdenken“. Ihr liegt viel am Unterricht bei den älteren Schülerinnen und Schülern. Dass ihr dieser Beruf, so wie er jetzt ist, so viel Spaß macht, wird am kommenden Sonntag eine Rolle spielen, wenn sie ihr Kreuz auf dem Stimmzettel machen wird. „Ich sehe den Erhalt des Gymnasiums unter einer rot-grünen Landesregierung als gefährdet an. Die Einheitsschule ist ein Horrorgespenst, das mir vor Augen schwebt.“ Auch ihr Schulleiter, Paul Brocker, der auch stellvertretender Vorsitzender der Westfälisch-Lippischen Direktorenvereinigung ist, plädiert natürlich für den Erhalt seiner Schulform. Das Gymnasium habe von der Idee und vom Bildungsanspruch her eine Berechtigung. Dort würden Kinder und Jugendliche unterrichtet, die eine eher theoretische Begabung haben und etwas schneller lernen als andere.

Mit dem Konzept der Grünen, die, bestärkt durch die Pisa-Ergebnisse, nun für ein integratives Bildungssystem plädieren, in dem langsam und schnell lernende Kinder länger zusammen unterrichtet werden sollen, kann Susanne Lerch nicht viel anfangen. Wie soll das gehen, fragt sie unwillig. „Schon in meiner fünften Klasse, die angeblich ja noch homogen sein soll, sitzen 34 völlig unterschiedliche Kinder.“

Sie selbst hält sich für eine strenge Lehrerin. Ihr Kollege Schwung meint: „Sie legt Wert auf Disziplin.“ Als ihre Sechstklässler nach dem Klingeln noch durch den Raum toben, sagt sie laut: „Ich schlage vor, dass ihr euch langsam auf eure Plätze begebt.“ Binnen weniger Sekunden sitzen alle. „Wie? Nur zwei haben zugehört?“ fragt sie später, als bei der Wiederholung einer Übung gerade mal zwei Finger hochgehen, und verschränkt die Arme. Ein Vergleich mit der typisch strengen Mathelehrerin amüsiert Susanne Lerch nur. „Was ist schon eine typische Lehrerin? Da muss jeder seinen Stil finden.“

Den hat sie nach Ansicht ihrer Kollegen längst gefunden. „Hat sie im Unterricht Witze gemacht?“, fragt ihr Mathekollege Schwung neugierig. Ja, das hat sie, und schlagfertig war sie auch. Im Mathekurs der Zwölfer legt ihr ein Junge einen Entschuldigungszettel mit der Bemerkung vor: „Meine Stufenleiterin hat den endlich mal unterschrieben.“Gemeint ist sie, Susanne Lerch. Die entgegnet cool: „Das muss aber eine Hexe sein.“ Schwung lächelt. „Sie hat die gesunde Mischung aus Autorität und Distanz gefunden und ist dabei den Schülern zugewandt.“ Sie packe die Dinge einfach mit viel Elan an. Ein Glücksfall für die Schule, findet er. Für Susanne Lerch ist ihre Stelle an der Schule auch ein Glücksfall. „Mein Job ist bombensicher. Das empfinde ich als Luxus.“