Brandmal Mobbing

Junge Mitarbeiter sind billiger als ältere. Um die Älteren trotz Kündigungsschutz loszuwerden, versuchen immer mehr Unternehmen, sie mit fiesen Mitteln zu freiwilliger Kündigung zu bewegen

Definition: „Mobbing“ leitet sich von dem englischen Verb „to mob“ ab und heißt übersetzt „anpöbeln, über jemanden herfallen“. Verhaltensforscher bezeichneten damit Gruppenangriffe von Tieren auf einen Fressfeind. Anfang der 1990er übertrug der Arbeitswissenschaftler Heinz Leymann den Begriff auf die Arbeitswelt. Laut dem Mobbingreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua) von 2002 sind ältere Arbeitnehmer vor allem von Arbeitsentzug betroffen – als klares Signal, dass sie nicht mehr gebraucht werden.

Gemobbte: Jeder achte Beschäftigte in Deutschland hat schon einmal Erfahrungen mit Mobbing gemacht, so eine Studie des Instituts für Markt- und Sozialforschung in Taunusstein (Ifak). Besonders betroffen: die älteren Arbeitnehmer. 2007 gaben rund 16 Prozent der über 50-Jährigen an, Mobbing ausgesetzt zu sein, 2008 waren es 20 Prozent.

Mobber: Laut Mobbingreport ist das Mobbingrisiko in sozialen und Gesundheitsdienstberufen, Büroberufen, beim Verkaufspersonal, bei Bank-, Bausparkassen- und Versicherungsfachleuten sowie in kirchlichen Organisationen höher. Das Risiko, gemobbt zu werden, steigt mit dem Lebensalter.

Folgen: Laut Mobbingreport erkrankt jeder Dritte länger als fünf Monate, jeder Fünfte braucht eine Kur, und jeder Sechste kommt in stationäre Behandlung. Mobbingopfer haben pro Jahr 12,2 Fehltage, Arbeitnehmer, die nicht gemobbt werden, nur 6,5.

Kosten: Das vollständige oder temporäre Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen Arbeitslosigkeit oder Berufsunfähigkeit kostet Geld, etwa weil dann Sozialbeiträge fehlen. Die durch Mobbing verursachten Kosten belaufen sich nach einer Studie des Instituts für Markt- und Sozialforschung auf 2,3 Milliarden Euro pro Jahr. J.D.

VON JANINE DAMM

Der nackte Schreibtisch macht ihn wütend. Und traurig. Martin Schmidt* schlägt die Zeitung auf, überfliegt Überschriften, blättert vor, dann wieder zurück. Auf die Texte konzentrieren kann er sich nicht; denn draußen auf dem Gang hört Schmidt die hektischen Schritte seiner jungen Arbeitskollegen. In seinem Büro ist es unerträglich still. Der 54-Jährige greift in seine Umhängetasche und legt mehrere Kugelschreiber vor sich auf den Tisch. Die Kulis hat er von zu Hause mitgebracht. Würde er welche bei der Firma anfordern, käme die Frage, wofür er die denn brauche. Schmidt reiht einen Kugelschreiber an den anderen, exakt im 90-Grad-Winkel zur Tischkante. 10.30 Uhr. Noch mindestens eine Stunde bis zur Mittagspause. An den Nachmittag will er gar nicht denken.

Schmidt war Gebäudeverwalter in einem Münchner Unternehmen. Offiziell ist er das immer noch, er arbeitet in derselben Abteilung, sitzt in demselben Büro, bekommt das gleiche Gehalt. Aber: Sein Schreibtisch bleibt leer. „Spezialvollmacht nennt sich das. Ich muss den Sonderaufgaben nach Weisung des Abteilungsleiters folgen.“ Das heißt: Schmidt ist durch Arbeitsentzug kaltgestellt – ein Signal, dass er nicht mehr gebraucht wird.

Schmidt ist kein Einzelfall: Jeder fünfte über 50-Jährige fühlte sich im Jahr 2008 laut einer Studie des Instituts für Markt- und Sozialforschung (Ifak) in Deutschland Schikanen am Arbeitsplatz ausgesetzt. Das gezielte Mobbing an über 50-Jährigen hat wirtschaftliche Gründe: 50- bis 65-Jährige verdienen hierzulande durchschnittlich rund 70 Prozent mehr als 25- bis 30-Jährige; das ergab eine Studie des Personaldienstleisters Adecco. Darin steckt Sparpotenzial: Warum die alten, teuren Mitarbeiter behalten, wenn ein junger Kollege die gleiche Arbeit für weniger Geld erledigt? Weil aber Mitarbeiter vor einer ungerechtfertigten Kündigung gesetzlich geschützt sind, versuchen Unternehmen, Mitarbeiter mit nicht nachweisbaren Mobbingattacken zur freiwilligen Kündigung zu bewegen – eine Methode, die Personalführungskräfte in diversen Seminaren und Workshops sogar trainieren können.

Eindeutige Begrüßung

Für Schmidt beginnt das Mobbing, als seine Abteilung im Jahr 2000 ausgelagert und mit einer anderen Firma verschmolzen wird. Er erinnert sich noch gut an die Begrüßungsworte des neuen Vorgesetzten: „Er hat gesagt, dass uns Älteren in den Arsch getreten gehört. Uns war klar, dass wir so schnell wie möglich wegsollten.“ Der junge Abteilungsleiter bewertet regelmäßig jeden Mitarbeiter – die Jungen erhalten hervorragende, Schmidt und seine gleichaltrigen Kollegen durchweg schlechte Benotungen. Briefe, in denen Kunden Schmidts Arbeit loben, verschwinden. Schriftliche Kundenbeschwerden über Baufehler, auf die Schmidt schon bei der Planung hingewiesen hatte, leitet der Abteilungsleiter an Schmidt weiter – gleich mit Kopie an die Geschäftsführung. „Ich kam mir vor wie ein Trottel! Die wollten ganz bewusst, dass ich Angst und Schuldgefühle bekomme.“

Die Vorgesetzten führen ein Personalbuch, notieren sogar die Freizeitaktivitäten der Mitarbeiter. „Jeder soll die Schwächen seiner Kollegen unverzüglich melden. Du bist umgeben von Arschlöchern“, sagt Schmidt. Ein Dreivierteljahr später werden die über 50-Jährigen mit kaum zu bewältigender Arbeit überhäuft. Weil der Druck ständig steigt, unterlaufen einigen Kollegen Fehler. Fehler, die erst zu einer Abmahnung führen, dann zur Kündigung. Andere werden schwer krank. 2008 ist Schmidt der letzte über 50-Jährige in seiner Abteilung. Wenn er nicht auf den Lohn angewiesen wäre, hätte auch er schon längst gekündigt. Eine Betriebsrätin empfiehlt ihm, ein Mobbingtagebuch zu schreiben, als Dokumentation. Aber Schmidt will nicht vor Gericht: „Ich will doch nur meinen Job behalten und endlich wieder richtig arbeiten.“

Vor Gericht gehen nur die wenigsten, sagt Klaus Michael Alenfelder, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Bonn. Vor fünf Jahren hat er sich auf Diskriminierungen spezialisiert. Er weiß, dass Mobbingopfern oft der Mut fehlt, zu prozessieren, und wie groß die Angst der Kollegen ist, gegen ihren Arbeitgeber auszusagen. „Das große Problem ist die Beweispflicht. Viele Mobbingsituationen finden unter vier Augen statt“, sagt Alenfelder. Dann stehe Aussage gegen Aussage.

Anders als Schmidt hat Anne Peters* aus dem Zollernalbkreis in Baden-Württemberg über Monate hinweg ein Mobbingtagebuch geführt. Ihre Geschichte beginnt, als ihr Chef im Oktober 2005 in Rente geht und sein Schwiegersohn die Firmenleitung übernimmt. Zu dem Zeitpunkt arbeitet die heute 58-Jährige dort schon 15 Jahre lang als Buchhalterin. Mit dem neuen Computerprogramm kommt sie langsamer voran als sonst. Überstunden häufen sich an – was dem neuen Chef missfällt. In ihrem Tagebuch dokumentiert sie die folgenden Monate: Der Chef lässt sie alle drei Monate zu sich rufen: Peters arbeite zu langsam, ihr Gehalt sei zu hoch und sie zu alt. Ob sie nicht kürzertreten wolle? „Nein.“

Lohn gekürzt

Ab April 2006 fehlt in der Kasse immer wieder Geld, Belege verschwinden. Immer öfter habe der Chef plötzlich hinter Peters gestanden, sie kontrolliert und gedroht: „Wegen Ihnen gehen wir noch insolvent!“ Ab Mai 2006 sind ihre Überstunden gestrichen. Immer öfter bekommt sie ihr Gehalt gar nicht, zum Beispiel wenn sie wegen einer Grippe nicht ins Büro kommt. Ihre Krankheitstage werden mit den Urlaubstagen verrechnet, ihr Stundenlohn wird von 17,80 auf 14,75 Euro gekürzt. „Das sei soziale Gerechtigkeit gegenüber der jüngeren Generation, die mit der gleichen Arbeit weniger verdient als ich, hat mein Chef gesagt“, sagt Peters.

Inzwischen zittert Peters, wenn ihr Chef den Raum betritt. Sie ist nervös, fühlt sich ständig beobachtet, traut niemandem mehr. Im Kontakt mit Kollegen und Nachbarn beschränkt sie sich auf einfache Floskeln. Nachts kann sie kaum schlafen. Existenzängste und Minderwertigkeitskomplexe plagen sie: „Die Verlustängste, die ich hatte, waren schlimmer als die, die ich durchgestanden habe, als mein Mann gestorben ist.“ Am liebsten würde sie kündigen – doch wie soll sie dann die Jahre bis zur Frührente finanziell überbrücken? Um die Attacken aushalten zu können, nimmt Peters Antidepressiva, Psychopharmaka und Schlafmittel. Zu den psychischen kommen physische Beschwerden: Bakterien im Magen, Rheuma, Gliederschmerzen.

„Die Auswirkungen von Mobbing werden häufig mit Symptomen verglichen, die Opfer von Natur- und anderen Katastrophen aufweisen“, sagt Diplompsychologin Beate Beermann von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua). „Die Ängste machen sich über Krankheiten Luft. Die einen bekommen Migräne, die anderen hohen Blutdruck, Herzrasen, Herzrhythmusstörungen oder sogar einen Herzinfarkt“, sagt Beermann. Weitere Symptome gleichen denen in akuten Stresssituationen: Unruhe, Schlafstörungen und Schweißausbrüche, die Liste lasse sich unendlich lange fortsetzen. Für einige Betroffene ende der Leidensweg in der Berufsunfähigkeit; manche begingen sogar Selbstmord, sagt Otto Berg, der selber einmal von Mobbing betroffen war und vor 16 Jahren zusammen mit Rechtsanwälten und Psychologen eine Anlaufstelle für Mobbingopfer gründete: eine Selbsthilfegruppe und das Mobbingtelefon München, an dem er zweimal pro Woche Betroffene kostenlos berät.

„Die Folgen von Mobbing für die Opfer werden mit denen von Naturkatastrophen verglichen“

BEATE BEERMANN, PSYCHOLOGIN
Wie im Delirium

Immer öfter lässt sich Peters krankschreiben. „Ich war wie im Delirium, dabei war ich doch immer ein ordentlicher, pflichtbewusster Mensch gewesen.“ Das Mobbing geht weiter. Nächste Etappe: arbeiten im Keller. Zwei grelle Neonleuchten sind die einzige Lichtquelle in dem großen, unbeheizten Raum. An den Wänden stehen Regale mit Ordnern. Peters kniet auf dem gefliesten Boden und beschriftet die Ordnerrücken neu. Wenn ihr kalt ist, geht sie in den Nebenraum und presst sich minutenlang an die Heizung. Der Keller bleibt ihr Büro – ein Zeichen demütigender Degradierung. Doch Peters sieht das weniger als Demütigung, sondern eher als Befreiung – hier taucht ihr Chef nicht so oft auf. Peters hat sich arrangiert. Denkt sie jedenfalls. Dann verlangt ihr Chef, kurz vor ihrem bewilligten Urlaub, dass sie die bereits gebuchte und bezahlte Reise storniert. Peters fängt an zu weinen. Und wird die nächsten Monate nicht mehr aufhören. Ein Nervenzusammenbruch. Sie braucht eine Therapie, danach eine Kur.

Noch während der Therapie erhält sie die schriftliche Kündigung. Sie klagt auf Wiedereinstellung, so hatte es ihr ein Berater der Gewerkschaft geraten. Viele Monate und etliche Prozesse später – inzwischen sitzt eine 400-Euro-Kraft auf Peters Platz – hat sie sich vor Gericht 15.000 Euro Abfindung erstritten. Arbeiten will sie nie wieder: „Mobbing ist wie ein Brandmal, die Attacken brennen sich tief in die Seele ein, sie sind wie Narben im Selbstwertgefühl.“ Seit sie aufgehört hat zu arbeiten, sind die gesundheitlichen Beschwerden fast vollständig verschwunden.

Während Peters anfängt, ihr Leben wieder zu genießen, ist der Ausgang von Martin Schmidts Situation hingegen noch unklar. Selbst kündigen will er keinesfalls, zu lange hat er schon durchgehalten. Er wartet auf einen Abwicklungsvertrag, in dem er die Kündigung akzeptieren und im Gegenzug eine Abfindung bekommen würde. Bis er ein entsprechendes Angebot erhält, kommt er jeden Morgen pünktlich ins Büro. Mit Zeitung und Kugelschreibern in der Tasche.

*Namen geändert