Sinkende Erregungskurve

SEHNSÜCHTE Wenn das Leben der virtuellen Welt in die Quere kommt: Franziska Gerstenberg rückt in ihrem Debütroman „Spiel mit ihr“ einem psychologischen Grundkonflikt der Gegenwart zu Leibe

Nachts im selben Bett liegen und am Morgen zusammen aufwachen, das muss nicht falsch sein

Es gehört zu den Binsenweisheiten des Daseins, dass alles, was im Überfluss da ist, irgendwann langweilig wird. Und dass es, um die Langeweile zu vertreiben, einer Radikalisierung bedarf. Der Schriftsteller Thomas Klupp hat in einem Romanauszug, den er im vergangenen Jahr in Klagenfurt vorgelesen hat, dieses Phänomen am Beispiel der Internet-Pornografie satirisch überhöht thematisiert. Und auch Franziska Gerstenberg, Jahrgang 1979, stellt in ihrem Debütroman (zuvor hatte sie zwei viel beachtete Erzählungsbände vorgelegt) den Zusammenhang zwischen virtuellem und echtem Leben, sexuellen Fantasien und deren Realisierung her. Und bestätigt, ganz nebenbei, noch eine zweite Binsenweisheit (die als solche nicht weniger wahr ist): Wer in den Weiten der virtuellen Communitys allzu heimisch wird, wird auch schnell bindungslos und einsam.

Schon der Beginn des Romans wirft Fragen auf, was das überhaupt alles ist und wo wir uns befinden. Ein Hochhausappartement mit Blick auf die Stadt; Stroh auf dem Fußboden, eine Mistgabel, ein als Kuh verkleideter Hocker. Und inmitten all dessen ein Geschlechtsakt. Bauer sucht Frau in der Gänselieselpornovariante? Reinhard heißt der Mann, dem die Wohnung gehört; Kristine die Frau, die sich dort, als Magd verkleidet, mit vorgewärmter Kuhmilch den Rock beklecksen lässt. Die beiden sind nicht mehr jung; Reinhard ist gerade 50 geworden; ein geschiedener Rechtsanwalt, der Kristine in einem Onlinekontaktforum kennengelernt hat. 72 von 100 Übereinstimmungspunkten, das ist nicht viel auf den ersten Blick, aber sie teilen ihre Fantasien.

Um Missverständnissen vorzubeugen: „Spiel mit ihr“ ist kein Roman über das Internet. Es ist auch kein Buch, das sprachlich oder formal so angelegt wäre, Vernetzungen und Funktionsweisen des World Wide Web mimetisch darzustellen. Das ist, wenn überhaupt, der Vorwurf, den man an die Autorin richten könnte – dass sie ihrem doch recht prallen Stoff, in dem sich einer der psychologischen Grundkonflikte der Gegenwart verbirgt, mit einem geradezu betont konventionellen Instrumentarium zu Leibe rückt und dabei Potenzial verschenkt. Doch Franziska Gerstenberg geht es um etwas ganz anderes. Sie zeigt, wie virtuell erzeugte Sehnsüchte an dem Umstand scheitern, dass Menschen nicht nur das Netz, sondern auch noch ein Leben haben. Ein halbes Familienleben im Fall von Kristine.

Da ist Emma, ihre sechsjährige Tochter. Der Versuch, Reinhard in die Familie einzubinden und aus der halben eine ganze Familie zu machen, scheitert, muss zwangsläufig scheitern. Wenn die Trennlinien zwischen der Ausnahmesituation des Rollenspiels und dem von banalen Verrichtungen getränkten Alltag verwischt werden, sinkt die Erregungskurve. Diesen Prozess stellt der Roman überzeugend dar. Hinter alldem steckt, zumindest bei Kristine, die Sehnsucht nach konventionellen Zusammenhängen: Vater, Mutter, Kind. Nachts im selben Bett liegen und am Morgen zusammen aufwachen, das wäre so eine Vorstellung, wie es gehen könnte. Das ist konservativ gedacht, muss aber nicht falsch sein. Reinhard dagegen dreht die Schrauben immer enger zu und geht dabei zu weit, allerdings nicht nach seiner eigenen Einschätzung.

Es gibt einen Nachbarn, Meisner, einen Sonderling, sozial dysfunktional, wie es scheint. Seine Wohnung, ausgerechnet, wird Emma zum Zufluchtsort. Der vermeintlich Verrückte ist in Wahrheit der Normale. Er bleibt stur in seinen eigenen vier Wänden. Die anderen gehen ins Internet. CHRISTOPH SCHRÖDER

Franziska Gerstenberg: „Spiel mit ihr“. Schöffling & Co., Frankfurt/Main 2012, 260 Seiten, 19,95 Euro