Essen, ohne zu denken

FLEISCHBESCHAFFUNG Die Ausstellung „bodenlos“ in der Galerie der Brotfabrik gibt Aufschluss über unseren irrwitzigen Umgang mit Lebensmitteln

Ein getötetes Damwild, aufgehängt an einem Haken – die braunen Augen offen

Kühlschrank auf, Mikrowelle an – viel mehr muss ein moderner Europäer nicht tun, um satt zu werden. Was uns schmeckt, das wissen wir. Woher es kommt, meistens nicht. Genau das ist ein Problem, meint das Fotografenkollektiv Proof9. Deshalb beschlossen die acht Mitglieder, diese gesellschaftliche Gedankenlosigkeit in Bildern sichtbar zu machen. Zwölf Monate lang fragten sie sich: „Was ernährt uns?“, und aus ihrer Suche nach Antworten entstand die Ausstellung „bodenlos“. Sie zeigt, wie wir uns immer mehr von dem entfremden, was uns Nahrung gibt: der Natur.

Riesige, fettig-gelbe Erdnussflips hängen da zum Beispiel an den Wänden der Brotfabrik-Galerie. Sie symbolisieren unsere Ignoranz. Und sie stehen am Anfang eines Gedankengangs, der Fotograf David Wieck bis zur Occupy-Bewegung führte: Wir essen, ohne zu denken, sind blind für Schäden durch industrialisierte Landwirtschaft – und sollten endlich etwas dagegen tun. An anderer Stelle stößt der Besucher auf wütende Bauern. Sie sitzen auf Treckern, halten Plakate in die Luft, empören sich über die europäische Agrarpolitik.

Fette Erdnussflips

Bigi Möhrle begleitete diese Landwirte aus ganz Deutschland auf einer 12-tägigen Protestfahrt durch die Bundesrepublik. Ihre Aktionen hielt sie in einer Fotoreportage fest. So näherte sich jeder der Fotografen dem gemeinsam gewählten Thema auf eigene Weise. Die Erkenntnisse, die sie aus ihren jeweiligen Recherchen zogen, verwandelten sich in ganz unterschiedliche Bildsprachen: Mal sind sie poetisch und abstrakt, mal konzeptionell oder dokumentarisch.

Dabei lassen sich manche Ansätze leichter nachvollziehen als andere. Susanne Leibolds Intention etwa wird erst beim Lesen des Begleittextes klar. In gewollt kitschigen Bildern beklagt sie, dass unsere Welt immer künstlicher wird. Andere Arbeiten hingegen offenbaren den Irrsinn im Umgang mit Lebensmitteln. Mark van der Maarel etwa besuchte eine Straußenfarm in der Nähe von Berlin. Eines seiner Schwarzweißbilder zeigt eine helle Feder auf kahlem Boden – sie scheint so verloren zu sein wie ein Strauß mitten in Europa.

Bei Serien wie dieser wirken die Fotografien lange nach, bei anderen bleibt eher die Geschichte dahinter im Kopf. Etwa wenn Irina Tübbecke die Arbeit der Berliner Tafel dokumentiert. Grüne Kisten voller Bananen, Tomaten oder Salat, Menschen die Autos be- und entladen, aussortieren und verteilen. 550 Tonnen Lebensmittel rettet der Verein jeden Monat vor dem Verfall. Tübbecke wertschätzt dessen Leistung, indem sie sie in Bilder fasst. In eine Welt weit weg von Verschwendung oder Profitsucht hat sich Peter Feldhaus begeben. Er beschreibt mit seinen romantischen Fotografien das urbane Gärtnern als einen revolutionären Akt. Anke Großklaß wiederum widmete sich der Jagd. Darunter versteht die Fotografin nicht unbedingt eine archaische Form der Fleischbeschaffung, sondern vielmehr eine Alternative zur Massentierhaltung. Eines der stärksten Bilder der Ausstellung zeigt ein getötetes Damwild, aufgehängt an einem Haken – die braunen Augen offen, der schlanke Hals aufgeschlitzt. Doch es sieht keinesfalls martialisch, sondern nahezu würdevoll, ja ästhetisch aus.

Als Besucher von „bodenlos“ wird man selbst zum Ideenjäger, versucht die Gedanken und Aussagen des jeweiligen Fotografen anhand seiner Bilder zu ergründen. Man spürt, dass die acht Mitglieder von proof9 ein Jahr lang intensiv an diesem Gesamtkonzept gearbeitet haben, ohne ihre individuellen Ansichten aufzugeben. Gerade die verschiedenen Perspektiven ermöglichen dem Betrachter, neue Gedanken zu formen und sich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Und am Ende kann jeder selbst entscheiden, für wie „bodenlos“ er unser Verhältnis zur Nahrung hält. ANDRIN SCHUMANN

■ „bodenlos“, bis 22. April, Brotfabrik-Galerie, www.brotfabrikberlin.de