Jeder ist ein Künstler

SCHULE DER KREATIVITÄT Tim Rollins verbindet seit dreißig Jahren Kunst und Sozialarbeit. Eine Ausstellung in Basel

Für Tim Rollins verändert Kunst nicht die Welt, wohl aber das Bewusstsein der Menschen

VON URSULA WÖLL

Die South Bronx ist der ärmste Stadtteil New Yorks, die meisten Bewohner sind Afro- oder Latinoamerikaner. Hier, an einer Public High School, begann Tim Rollins 1984 als junger Lehrer, und hier stellte er schon bald das außerschulische Projekt „Kids of Survival“ (K. O. S.) auf die Beine.

Natürlich wollte er mit seiner Initiative die Kids von der Straße holen, doch dieser karitative Aspekt war eher zweitrangig für ihn. Rollins fragte sich, warum armen Jugendlichen die Hochkultur vorenthalten wird, die ihm selbst so viel bedeutet. „We had to take the history of powerful and lasting literature and music back for ourselves“, also konfrontierte er die pubertierenden Mädchen und Jungen trotz ihrer Leseschwächen mit Weltliteratur. In einem weiteren Schritt setzte er die Texte malerisch mit ihnen um. So unglaublich es klingt, das Projekt schrieb Kunstgeschichte.Heute haben 95 renommierte Museen Werke von „Rollins + K. O. S.“ in ihren Sammlungen. Weltweit finden Ausstellungen statt.

Den Auftakt bilden zwei überdimensionale Bildkompositionen, die das letzte Kapitel von Franz Kafkas Roman „Amerika“ interpretieren. Entstanden in der euphorischen Anfangsphase 1987/88, zeigen sie bereits das Charakteristische aller späteren Werke: Sie sind kollektiv entstanden und ihr Malgrund besteht aus den auf die Leinwand akkurat neben- und untereinander geklebten Buchseiten des Romans.

Darauf haben die Kids ein abstraktes Muster mit stilisierten goldenen Trompeten gemalt, das nicht nur ästhetisch anspricht, sondern auf geradezu geniale Weise die Essenz der Kafka’schen Botschaft herausfiltert: In dem letzten, erstaunlich optimistischen Werk Kafkas wird der Protagonist Karl vom Versprechen „Everyone is welcome, everyone is an artist“ angelockt, mit dem der Zirkus von Oklahoma Leute wirbt. Engel mit goldenen Trompeten verkünden die frohe Botschaft, und Karl wird tatsächlich eingestellt.

„Everyone is welcome“ ist bis heute Tim Rollins’ Devise und wahrscheinlich das Geheimnis, mit dem er die Kids bei der Stange hält. Im Projekt traut man ihnen etwas zu, achtet sie als gleichberechtigte Gruppenmitglieder und weist ihren schöpferischen Bedürfnissen einen Weg. Rollins gibt zwar zwangsläufig vieles vor, was die etwa 15-Jährigen ausführen, dabei werden sie aber von seiner Begeisterung angesteckt und trauen sich auch eigene Interpretationen zu.

In Basel, wohin der nun 56-jährige Künstler zur Eröffnung anreiste, bedauerte er: „The irony is that at first this could only be accomplished by my being a leader.“ Er steht zunächst vor der Runde, alle haben das Buch vor sich, doch Rollins spricht Satz für Satz mit ausladenden Gesten vor und lässt im Chor nachsprechen.

Nach dieser kollektiven Aneignung diskutiert er mit den Jugendlichen, die danach konzentriert und hingegeben die verabredeten Motive mit Acryl, Kohle, Bleistift, Wasserfarben oder auch mal Ochsenblut skizzieren. Im nächsten Schritt kleistern sie die Textseiten von Herman Melville, Nathaniel Hawthorne, Shakespeare, Flaubert, Faulkner oder Martin Luther King jr. auf die riesige Leinwand und übertragen ihre Entwürfe darauf, so dass die Kreativität aller in das Werk eingeht.

Rollins lässt auch klassische Musik malerisch interpretieren, dann dienen aufgeklebte Partituren als Malgrund. In Basel fallen etwa Schuberts „Winterreise“ und Weills „Mahagonny“ auf. Der angeleitete und zugleich eigenschöpferische Prozess erinnert an das Projekt „Rhythm is it!“ von Simon Rattle mit Berliner SchülerInnen.

Für ihre Ausdauer werden auch die New Yorker Kids mit Erfolgserlebnissen belohnt, was ihr Selbstwertgefühl stärkt. Oft helfen ihnen die ausgewählten Werke, ihre eigene Situation zu verstehen, wie etwa Hawthornes Klassiker „The Scarlet Letter“. Die jungen Künstler haben den roten Buchstaben A, mit dem die neuenglischen Puritaner die sündige Hester ausgrenzen, in immer neuen Variationen wie ein Menetekel über die aufgeklebten Buchseiten verteilt. Bei Melvilles „White Whale“ ist die riesige Bildfläche lediglich mit einem wolkigen weißen Schleier übermalt. Er soll die ungreifbare Gefahr durch Moby Dick andeuten.

Die South-Bronx-Kids wollten nicht Gerhard Richter neu erfinden, sondern die verinnerlichten Synonyme „Weiß gleich gut“ und „Schwarz gleich böse“ einmal umdrehen. Ihre Bilderfolge „Macbeth“, von Tafel zu Tafel immer dunkler mit Ochsenblut übermalt, lässt sich als Auseinandersetzung mit der täglichen Gewalt in ihrem Umfeld deuten. Für Tim Rollins verändert Kunst nicht die Welt, wohl aber das Bewusstsein der Menschen „and it is up to people to change the social world“.

Deshalb werden die neuen Werke zunächst den Verwandten und der Nachbarschaft des Studios präsentiert, danach öffentlich im Stadtviertel ausgestellt und diskutiert. Begleitend zu jeder Sonderausstellung in den Museen der Welt bietet der Kunstpädagoge Workshops mit Jugendlichen an, in denen sie ihre Kreativität zu einem kollektiven Resultat bündeln können. In Basel arbeitete er zwei mal drei Stunden mit SchülerInnen des Kirschgarten-Gymnasiums. Als Thema des gemeinschaftlichen Werks gab er die Musik „The River“ von Duke Ellington vor, die in Malerei übersetzt wurde.

Das an eine historische Mühle angebaute Basler Museum für Gegenwartskunst nahe dem Rhein bietet Raum satt für die großen und großartigen Kunstwerke.

■ Noch bis zum 15. April, Museum für Gegenwartskunst, Basel. Katalog (Ringier) 35 Euro