Die Flucht nach vorne

Der Analytiker Christian Schneider über Gerhard Schröders Vorwärtsverteidigung: Rationalität bedeutet, die Mittel zur Sicherung der eigenen Macht und des eigenen Projekts auszuschöpfen

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Verblüffend, dass Gerhard Schröders Schritt, vorgezogene Neuwahlen anzustreben, allerorten Überraschung ausgelöst hat. Es ist, genau betrachtet, daran wenig Erstaunliches. Wo haben die ihren Kopf gehabt, die seit Jahren Schröders politische Instinktsicherheit und die Fähigkeit, mit dem Rücken zur Wand, die besten Schachzüge zu ersinnen, loben? Auch, dass es eine „einsame Entscheidung“ war, ist unter den gegebenen Umständen nicht verwunderlich. Schröders Schritt ist zweifellos rational, wenn Rationalität bedeutet, die Mittel zur Sicherung der eigenen Macht und des eigenen Projekts auszuschöpfen.

Ob das Manöver politisch klug ist, wird sich, lange vor einer Wahl im Herbst, in den nächsten Wochen zeigen: im Verhalten der momentan geschockten rot-grünen Basis. In ihrem Verhalten wird sich zeigen, ob die Entscheidung des Kanzlers lediglich eine verzweifelte Flucht nach vorne oder ein vernünftiges Kalkül ist.

Schröder hat nicht nur den Verfall der politischen Zustimmung im Land zur Kenntnis genommen, sondern – und das zeichnet ihn als politischen Kopf aus – auch das Schwinden der psychologischen Loyalität. Wer ihm unterstellt, er kalkuliere bei der gesuchten Konfrontation mit Angela Merkel auf Kanzlerbonus und höhere persönliche Sympathiewerte, die im Spitz-auf-Knopf-Fall vielleicht den Parteientrend umkehren könnten, unterstellt richtig, verkennt aber die Tragweite des Manövers. Auch im Zeitalter von Mediendemokratie und virtuellen Realitäten gelten nach wie vor die Grundlagen der Massenpsychologie: Massenloyalität wird nicht zuletzt durch die Überzeugungskraft von politischen Führern und/oder politischen Ideen geschaffen. Im Idealfall ist der Führer die Verkörperung der „Idee“. Sich mit ihm zu identifizieren schafft für die Gefolgschaft wechselseitige Bindungen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die modernen Demokratien westlichen Typs leiden darunter, dass ihre grundlegende Idee an Strahlkraft verloren hat: das Konzept Demokratie als solches reicht bei uns, anders als in Gesellschaften, die sich vom totalitären Joch befreien wollen, nicht mehr aus, um stabile Bindungskräfte zu erzeugen – insbesondere, wenn das grundlegende sozialstaatliche Versprechen des allgemeinen Wohlstands zur Disposition steht. Auch die jeweiligen Parteiprogrammatiken haben in der Ära der Volksparteien nicht genügend konzeptive Durchschlagskraft, um tragfähige Bindungen zu schaffen.

Freud hat gezeigt, dass der Verlust von Führer oder Idee bei der Gefolgschaft die wechselseitigen Bindungen auf- und damit Desorientierung und Panik auslöst. Bei der rot-grünen Basis ist ein Desorientierungsprozess spätestens seit sich ihre ursprünglichen Ideale an der Regierungspragmatik abgeschliffen haben, zu beobachten: bei der grünen Klientel verschärft durch die Beschädigung ihres Führers und Alpha-Tiers Fischer, bei den Sozialdemokraten durch das Aufbrechen ihres unverarbeiteten Identitätsdilemmas, das in der Debatte um Münteferings „Kapitalismuskritik“ kenntlich wird. Schröders Manöver zeugt von massenpsychologischem Gespür: Er beweist sich als zupackende Führungspersönlichkeit, indem er in der Krise zuspitzt, statt abzuwarten. Er unterzieht damit seine eigene konzeptuelle Grundlage einem Lackmus-Test: Ist die „neue Mitte“ tatsächlich eine tragfähige Basis? Mit der Zuspitzung auf einen außerordentlichen Wahltermin treibt er einen polarisierenden Keil in die eigene Gefolgschaft: Wird man jetzt kämpfen oder resignieren? Jammern oder neue Kräfte mobilisieren? Was ist seiner Klientel das Projekt des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft und der Erneuerung des Sozialstaats im Zeitalter der Globalisierung wirklich wert? Schröder, dem man gern programmatische Schwäche nachsagt, zeigt in der Krise Stärke als Führer, der den Wert von Konzeptionen auf der Skala von Loyalität und Überzeugung ihrer Anhänger testet. Denn das ist der eigentliche Schock, der jetzt die rot-grüne Basis ereilt: Man wird sich unter denkbar schwierigen Umständen darüber verständigen müssen, als was man sich eigentlich versteht: als demokratisches Zwischenspiel oder als politisches Jahrhundertprojekt. Schröder stellt das – und damit seine eigene politische Existenz – zur Disposition. Sein Alles-oder-nichts-Spiel ist das psychologische Experimentum crucis eines demokratischen Führers, der die Überzeugung verkörpert, dass nur der ernst zu nehmen sei, der seine Verpflichtung gegenüber einem politischen Projekt mit dem Willen zur Macht verbindet. Mal sehen, wer ihm darin folgt.