Bilder von Leben und Tod

GESAMTKUNSTWERK Das Arsenal würdigt das Filmemacherduo Michael Powell und Emeric Pressburger mit einer Retrospektive

Wolken hängen tief über dem Boden, Felsen ragen steil in die Höhe

VON HELMUT MERKER

Bitte anschnallen und nicht erschrecken, wenn es gleich mit einem Zitat des Philosophen Gilles Deleuze losgeht: „Die Identität von Bild und Bewegung hat ihren Grund in der Identität von Materie und Licht. Das Bild ist Bewegung, wie die Materie Licht ist.“ Natürlich kann man das auch einfacher ausdrücken, beim Anblick einer bunten Blume auf Erden sagt der Götterbote: „Im Himmel sehnt man sich nach Technicolor.“ „A Matter of Life and Death“ heißt der Film von 1946, und um Leben und Tod geht es immer wieder im Werk von Michael Powell und Emeric Pressburger. Und um Materie und Licht, um Farbe und Bewegung.

„Irrtum im Jenseits“ ist der deutsche Titel von „A Matter of Life and Death“; die Geschichte beginnt im Universum, langsam schwebt die Erde ins Bild, und der britische Bomberpilot, der sich nicht mehr anschnallen kann und keinen Fallschirm hat, zitiert ein paar Gedichte, verliebt sich im Fluge in eine amerikanische Funkerin, springt aus seinem Flugzeug und gerät physisch und metaphysisch zwischen Leben und Tod. Am Ende siegt die Himmelsmacht auf Erden, die Liebe; wichtiger als die finale Ankunft ist aber die Passage dorthin.

Der übliche Nebel über England wird zum Spiralnebel zwischen Diesseits und Jenseits, beides ist verbunden durch eine schier endlose Treppe wie aus einem Busby-Berkeley-Film. Einmal schließt sich, bildfüllend, ein Augenlid, und darunter wirbeln Bild und Bewegung, Materie und Licht durcheinander, halluzinatorisch, surrealistisch, stratosphärisch. Über Leben und Tod wird in einem Tribunal entschieden, mit satirischen Seitenhieben auf den britischen und den amerikanischen Way of Life und einer irrwitzigen Tour de Force durch die abendländische Geistesgeschichte.

Einzig angemessener Ort der Tagung ist der Olymp, und der präsentiert sich in Form eines Olympiastadions mit Ausmaßen wie in Fritz Langs „Metropolis“, in den strengen geometrischen Kompositionen des Expressionismus – und in Schwarzweiß, denn im Himmel gibt es ja kein Technicolor. Mit ihrer 1941 gegründete Londoner Produktionsfirma „The Archers“ schufen der Engländer Michael Powell und der aus Ungarn stammende Emeric Pressburger als Regisseure, Produzenten und Autoren ein visionäres und exzentrisches Werk, ebenso spektakulär unterhaltsam wie ästhetisch experimentierfreudig. „Ecstasy in Rhythm, Triumph in Technicolor“, das ist für sie der Himmel auf Erden.

In dem Film „Die schwarze Narzisse“ (1947) dominiert zunächst das Weiß: in wehenden Schleiern und im ewigen Eis, in Klosterwänden und Nonnengewändern. Wolken hängen tief über dem Boden, Felsen ragen steil in die Höhe. Dem Himmel so nah im Himalaja liegt die Mission, die früher einem potenten Potentanten als Lustschlösschen diente. Alles ist bigger than life in der vollkommenen Künstlichkeit der Studiotechnik, kein Wunder, dass hier die Farben der Natur bald ebenso explodieren wie die unterdrückten Gefühle der Nonnen. Am Ende hängen ein weißer und ein schwarzer Engel im Kampf auf Leben und Tod am Seil der Kirchenglocke über dem Abgrund.

In „A Canterbury Tale“ (1944), so bescheiden das ländliche England in idyllischem Schwarz-Weiß zunächst auch daherkommt, balanciert die Geschichte alsbald subtil auf dem schmalen Grat zwischen spiritueller Aufladung und märchenhafter Auflösung. Ein Falke wird zum Kampfflugzeug, ein Pilgerzug zur Panzerparade, ein lokaler Kriminalfall verwandelt sich in ein philosophisches Modell, am Ende ihrer Wallfahrt wird den Personen in der Kathedrale von Canterbury Erleuchtung zuteil.

Die Figuren von Powell/Pressburger unternehmen Initiationsreisen, die ein Leben lang dauern können. Das gilt vor allem auch für die beiden bekanntesten Werke dieser Reihe, für den Ballettfilm „Die Roten Schuhe“ (1948) und das Opernmelodram „Hoffmanns Erzählungen“ (1951). Genie und Wahnsinn, Bretter, die die Welt, und Welt, die die Bretter bedeuten, sind das zentrale Thema. Moira Shearer, einmal als Ballerina in surrealen Fantasiewelten, in der die Kamera ihre Pirouetten ekstatisch nachvollzieht, und einmal als Tanzautomat, der in seine Einzelteile zerlegt wird – am Ende bleibt nur noch ein zuckendes Bein übrig.

Eine filmische Poesie des Miteinanders von Glück und Schrecken, die barocke Stilisierung der romantischen Dreieinigkeit Kunst-Liebe-Tod. Ein Kosmos, der zwei scheinbar widersprüchliche Kinoleidenschaften zusammenführt: für fantastische „Extravaganzas“ und für ganz und gar wirkliche Gefühle. Das ist Michael Powells und Emeric Pressburgers entfesselter Traum vom Gesamtkunstwerk.

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