Mit Jazz gegen die Wiederkehr des Schreckens

Der polnische Geiger Adam Bałdych gab in der Berliner St.-Elisabeth-Kirche ein ergreifendes Gedenkkonzert zur Erinnerung an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

Der polnische Jazzgeiger Adam Bałdych mit seiner Band in Berlin Foto: Grzegorz Karkoszka

Von Yelizaveta Landenberger

Selten führt ein Gedenkkonzert, das an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert, zu so viel Ergriffenheit wie am Mittwochabend in der Berliner St.-Elisabeth-Kirche. Das Publikum erhebt sich von seinen Stühlen und applaudiert anhaltend, nachdem es zuvor Livemusik gehört hat, die erst 2025 auf dem Album „Porträts“ des polnischen Star-Jazz-Geigers und Komponisten Adam Bałdych und seines Quintetts veröffentlicht wird. Veranstaltet wurde das Konzert vom Pilecki-Institut, einem staatlichen polnischen Kultur- und Forschungsinstitut.

Eingängige Melodien, anspruchsvolle Changes und Jazzrhythmen erfüllten knapp anderthalb Stunden den Raum und rissen die Zu­hö­re­r*in­nen mit. Einige Songs muteten melancholisch und getragen an, doch es dominierten die starken Klänge. Der 38-jährige Bałdych, in Nadelstreifenanzug und Sneaker gekleidet und mit charakteristischem Dutt und Undercut, verzerrte beim Spiel ergriffen das Gesicht. Mal zupfte er sein Instrument wie ein Rockstar, mal strich er sanft mit dem Geigenbogen darüber und mal malträtierte er es, bis man fürchten musste, es könnte gleich explodieren. Es rissen aber nur einzelne Haare des Geigenbogens.

Zwischendurch griff Bałdych zur Renaissance-Geige, seinem Lieblingsinstrument. Auch die Begleitmusiker an Flügel, Kontrabass, Drums und Saxofon zeigten ihre Fertigkeiten bei improvisierten Parts, während Bałdych wie in einem Club tanzte. Doch es ging um mehr als um die gelungene Show an diesem Abend. Thematisch stand das wechselhafte, von Krieg und Totalitarismus, aber auch von demokratischer Wende geprägte polnische 20. Jahrhundert im Mittelpunkt – sowie die „fragile Conditio humana“ der Gegenwart, in der die vergangen geglaubten Schrecken wiederkehren.

„Porträts“ ist ein hochemotionales Album. Obwohl eine Auftragsarbeit für das Pilecki-Institut, ist sofort spürbar, dass seine Musik aus Überzeugung und Einfühlung entstanden ist. Bałdych holte sich Inspiration von Geschichten aus den Archiven, aber ebenso vom Buch „Musik in ­Auschwitz“ von Szymon Laks, der im Lagerorchester des Vernichtungslagers spielte und das NS-Grauen überlebte. Aber wohl auch aus seinem christlichen Glauben, wie etwa beim Auftaktstück des Abends, „Vision (Talking to Jesus)“, oder wie die Titel „Tree of Knowledge“ und „Genesis“ nahelegen.

Die Worte des Stücks „Niebo złote ci otworzę“ („Ich werde den goldenen Himmel für dich öffnen“), das eine Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Krzysztof Kamil Baczyński darstellt, trägt der Sänger Piotr Odoszewski mit sanfter hoher Stimme vor. Baczyński kam 1944 während des Aufstands im Warschauer Ghetto ums Leben, gerade 23 Jahre alt.

Die St.-Elisabeth-Kirche als Veranstaltungsort war sorgsam gewählt. Der von außen antik anmutende Schinkel-Bau wurde während des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigt. Das Kirchenhaus ist zwar saniert, jedoch nicht als Sakralbau mit Orgel, Altar und Bänken wiederhergestellt – die Innenfassade besteht aus unverputzten roten Ziegelsteinen – und wird vor allem für Kulturveranstaltungen genutzt. Das Bauwerk erinnert auch an den traurigen Anlass des Konzerts und des Albums von Adam Bałdych – zwei runde Jahrestage: den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem deutschen Überfall auf Polen vor 85 Jahren am 1. September 1939 und den Beginn des Warschauer Aufstandes vor 80 Jahren am 1. August 1944. Nachdem dieser nach zwei Monaten gescheitert war, legten Wehrmacht und SS-Verbände die Stadt in Schutt und Asche.

Während die Jahrestage zentral für die polnische Erinnerungskultur sind, spielen sie hier kaum eine Rolle

Während diese beiden Jahrestage zentral für die polnische Erinnerungskultur sind, spielen sie in Deutschland kaum eine Rolle. Das Leid der polnischen Bevölkerung, Morde, Verschleppungen, die Ausbeutung von Zwangsarbeiter*innen, sind hierzulande kaum bekannt. Aber auch eine Ignoranz gegenüber der polnischen Geschichte und Sprache und Kultur des Nachbarn Polen im Allgemeinen macht diesen Abend so relevant. Polen wird nicht als Kulturnation wahrgenommen. Das dürfte nicht nur an mangelnder Bildung liegen, sondern noch immer dem im deutschen Kaiserreich aufkommenden, im Nationalsozialismus auf die Spitze getriebenen und bis heute spürbaren antislawischen Rassismus geschuldet sein.

Und da wäre noch ein weiterer Anlass, auf den auch der polnische Diplomat Jan Tombiński in seiner Rede an diesem Abend hinweist: Es tobt wieder ein Krieg in Osteuropa – der russische Angriff gegen die Ukraine. Die Herausforderung, aus der Geschichte zu lernen, sei lange schon nicht mehr so groß und dringlich gewesen wie jetzt, sagt Tombiński. Der Abend gab Hoffnung, dass das vielleicht doch noch gelingen könnte.