43 verschwundene Studenten in Mexiko: Gescheiterte Chefsache

Nach 10 Jahren ist das Verschwinden von 43 Studenten in Ayotzinapa nicht aufgeklärt. Präsident Amlo hatte viel versprochen.

Demonstrierende mit Tüchern vor Mund und Nase

Stu­denten demonstrieren vor dem 10. Jahrestag des Verschwindens von 43 Studenten aus Ayotzinapa, Mexiko Foto: Fernando Llano/AP/dpa

BERLIN taz | Mexiko brennt. Wenige Tage, bevor Andrés Manuel López Obrador am 1. Oktober die Präsidentschaft an seine Nachfolgerin Claudia Sheinbaum übergibt, steht der Staatschef im Kampf gegen die Gewalt vor einem Scherbenhaufen: Bei internen Kämpfen des kriminellen Sinaloa-Kartells starben in der nördlichen Stadt Culiacán in den vergangenen Tagen mindestens 60 Menschen. Im südwestlichen Bundesstaat Michoacán streikten Bauern, um ­gegen den Mord an einem Agrarunternehmer zu protestieren, der sich weigerte, die von einer Mafiabande geforderten „Steuern“ zu bezahlen.

Und im Südosten mussten Tausende ihre ­Heimat verlassen, da sich zwei Kartelle einen Krieg um die Kontrolle der Grenze zu Guatemala liefern. 30.000 Menschen demonstrierten dort, im Bundesstaat Chiapas, jüngst mit einem „Pilgermarsch für den Frieden“ gegen den Terror und die Tatenlosigkeit des Staates. López Obrador, kurz Amlo, hinterlasse eine „tödliche Schuld“, erklärt das katholische Medienzentrum CCM.

Auch dem 57-Jährigen Clemente Rodríguez ist der gemäßigt linke Staatschef etwas schuldig. Seit zehn Jahren sucht Rodríguez seinen Sohn. Christian Rodríguez wurde in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 mit 42 weiteren Kommilitonen des Ayotzinapa-Lehrerseminars in der Stadt Iguala im südlichen Bundesstaat Guerrero von Mitgliedern der Bande Guerreros Unidos und Polizisten verschleppt, wahrscheinlich mit Hilfe der Armee. Sechs weitere Menschen starben.

Rodríguez kämpft mit den Angehörigen dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Doch bis heute wissen sie nicht, was mit ihren Liebsten passiert ist. „Dieser Präsident war für uns eine totale Enttäuschung“, sagte er der taz. Zwar wurden 119 mutmaßliche Beteiligte verhaftet. Aber verurteilt wurde niemand.

Als das Militär ins Spiel kam, wendete sich das Blatt

Dabei schöpften die Väter, Mütter und Geschwister der Verschwundenen große Hoffnung, als Amlo 2018 sein Amt übernahm. Während dessen Vorgänger Enrique Peña Nieto bemüht war, die Hintergründe zu verschleiern, erklärte López Obrador die Aufklärung zur Chefsache.

Und tatsächlich bewegte sich zunächst einiges. Der Staatschef schuf eine Sonderstaatsanwaltschaft sowie eine Wahrheitskommission und traf sich mit den Angehörigen. Schon vorher hatte eine Gruppe internationaler Ex­per­t*in­nen festgestellt, dass Peña Nietos Straf­ver­fol­ge­r*in­nen gezielt Tatorte manipuliert und Gefangene gefoltert hatten, um die Tat auf ein lokales Problem zu reduzieren. Die neu eingesetzten Institutionen bestätigten die Vorwürfe. Der ehemalige Generalstaatsanwalt sitzt nun hinter Gittern, gegen den Polizeichef läuft ein Haftbefehl.

„Am Anfang lief alles gut“, bestätigt Rodríguez. „Doch als das Militär ins Spiel kam, hat sich das Blatt gewendet.“ Die Angehörigen sowie zivilgesellschaftliche Gruppen fordern, dass die Armeeführung 800 Dokumente offenlegt, die für Aufklärung sorgen könnten. Schließlich wusste das Militär vor Ort noch nach der Entführung über den Verbleib der Studenten Bescheid und gab die Information nicht weiter. Einer der Verschleppten agierte in dem linken Ayotzinapa-Lehrerseminar als Spitzel der Armee.

Trotzdem ist Amlo davon überzeugt, dass die Sol­da­t*in­nen nichts mit dem Fall zu tun haben. Es gebe keine Beweise für deren Beteiligung, betont er. María Luisa Aguilar Rodríguez vom Menschenrechtszentrum ProDH macht diese „Rückendeckung der Regierung für das Militär“ mit für die fehlende Aufklärung verantwortlich.

Die Angehörigen reden nicht mehr mit López Obrador

López Obradors schützende Haltung gegenüber der Armee ist nicht verwunderlich. Er hat dem Militär immer mehr Macht eingeräumt. Das Verteidigungsministerium kontrolliert mittlerweile Infrastrukturprojekte wie den Touristenzug „Tren Maya“ auf der Halbinsel Yucatán sowie die Eindämmung der Migration, betreibt Flughäfen und ist für die innere Sicherheit zuständig.

Vergangene Woche setzte Amlos Morena-Partei im Parlament durch, dass die Nationalgarde vom Militär geführt wird. Doch weder diese Einheit noch die Armee selbst konnten die Eskalationen in Culiacán, Michoacán oder Chiapas eindämmen. Im Gegenteil: Die Bauern in Michoacán kritisieren, dass die „Steuer“ der Mafia pro Kilo Limonen in Amlos Regierungszeit erheblich gestiegen sei, doch die Regierung ignoriere die Entwicklung.

Vieles spricht dafür, dass die Studenten in Iguala einem Drogendeal in die Quere kamen. Als sie überfallen wurden, befanden sich einige in einem Bus, in dem sich Heroin für den Schmuggel in die USA befunden haben könnte. Das könnte eine Beteiligung von Militärs erklären, die immer wieder solche Transporte „absichern“.

Dafür gebe es keine Anhaltspunkte, behauptet Amlo und beschuldigt zivilgesellschaftliche Organisationen, die Aufklärung zu erschweren. Im Zentrum seiner Kritik steht das Zentrum ProDH. „Angebliche Menschenrechtsverteidiger der sogenannten Zivilgesellschaft“ und „Zweigstellen der US-Regierung“ hätten eine Diffamierungskampagne gegen ihn gestartet.

Seit einigen Monaten sprechen die Angehörigen nicht mehr mit López Obrador. „Wir sehen keine Bedingungen für weitere Treffen, weil sie immer in Konfrontation enden“, erklärt deren Anwalt Vidulfo Rosales. Ob mit der neuen Präsidentin alles besser wird? Bislang hält sie im Kampf gegen die Mafia an Amlos Linie fest. Clemente Rodríguez will trotzdem nicht aufgeben: „Wir müssen Sheinbaum einen kleinen Vertrauensvorsprung geben.“

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