Neues Album von US-Gitarristin Eisenberg: Schärfer als ein Laser

Die New Yorker Freejazz-Gitarristin Wendy Eisenberg verarbeitet auf dem Album „Viewfinder“ eine Augen-OP – psychedelisch und elegant.

Wendy Eisenberg spielt Gitarre auf einer Bühne

Ikonoklastin an der Gitarre: Wendy Eisenberg mit Axt Foto: Peter Gannushkin

Auch wenn sie inzwischen alltäglich sein mag, eine Augenoperation bleibt ein hochkomplexer medizinischer Eingriff. Da vergisst man leicht, dass es bis vor wenigen Jahrzehnten für manche Augenerkrankungen noch gar keine Behandlungsmöglichkeiten gab oder wenn, dann nur mit lebensgefährlichen Folgen.

So erging es etwa Johann Sebastian Bach, als er im April 1750 am Grauen Star operiert wurde. Die Behandlung schlug katastrophal fehl: Der Komponist verlor sein Augenlicht und verstarb kurze Zeit später an den Komplikationen. Nur zwei Jahre später erblindete sein ebenso berühmter Kollege Georg Friedrich Händel – ebenfalls durch eine fehlerhafte Augenoperation.

Nun muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass beide Barockkomponisten wohl vom gleichen Arzt behandelt wurden – dem mittlerweile als Scharlatan verrufenen Briten John Taylor. Ein Trost: Heutzutage wird die Augenerkrankung Grauer Star immerhin nicht mehr von Quacksalbern mit einer Nadel aufgestochen.

Stattdessen kann sogar eine leichte Hornhautkrümmung per Laser operativ ausgeglichen werden. Solch eine Lasik-OP ist nicht nur Realität gewordene Science-Fiction – sondern auch eine überaus psychedelische Angelegenheit. So beschreibt es zumindest die US-Gitarristin Wendy Eisenberg, die 2021 selbst einen solchen Eingriff durchlebte.

Abstrakt und anschaulich

Eisenberg blieb bei vollem Bewusstsein, während der Excimerlaser das Gewebe an ihrer Hornhaut abtrug. Die Künstlerin spricht von einem „nicht wiederholbaren Film“, der sich dabei vor ihrem Auge abspielte: Von ab-strakten Formen und Farben, vom seltsamen Heiligenschein des Lasers, eingerahmt durch das grelle Weiß und die Neonlampen im OP-Saal. Eine komplett unwirkliche und gleichzeitig unmittelbar fühlbare Erfahrung, die Eisenberg zum Glück nicht erblinden ließ – sondern sie stattdessen zu ihrem neuen Album „Viewfinder“ (Lupe) inspirierte.

Wendy Eisenberg: „Viewfinder“ (American Dreams/Bandcamp)

Das Abstrakte anschaulich klingen zu lassen ist schon lange eine der Spezialitäten der 33-jährigen Gitarristin. Im Sound ihrer Band Editrix erweckt die studierte Jazzmusikerin komplizierte Akkordfolgen mit der manischen Spielfreude von Punk- und Noise-Rock zum Swingen.

Als Teil des Bill Orcutt Quartetts lässt sie komplex auskomponierte Klangskulpturen leicht und zugänglich wirken. Ihre Soloalben sind ein Mix aus Songwriting und Improvisation. Manchmal spielt sie minimalistischen Banjo-Folk, bisweilen elektrischen Impressionismus.

Und nun mit „Viewfinder“ macht sie konzeptuelle Musik über das Verlieren und Wiedererlangen des Augenlichts, Vorgänge, die sie in ihrem Sound erlebbar macht. Im Auftakt „Lasik“ schafft sie das explizit und singt: „I went to get my eyes fixed“, über ein Postrock-Fundament, das hörbar in der Tradition von Bands wie Tortoise steht. Trompete und Posaune steuern seltsame Farbtupfer bei. Und anstatt eines Lasers ist es ein konstanter Gitarrendrone, der sanft den Klangraum durchschneidet.

Deutlicher noch als andere Eisenberg-Projekte entspricht „Viewfinder“ dem Idiom „Jazz-Album“. Es ist ein 79 Minuten schwerer „Song-Zyklus für Improvisierende“. Und keine Sekunde ist verschwendet. Immer und immer wieder geben sich Eisenberg und ihre fünfköpfige Band ganz der Exploration hin, verlieren sich in langen Instrumentals, verschwimmen in der Improvisation – nur um in scharfen Fokus zurückzufinden.

Schwereloser Vokaljazz

Der zweiteilige Titeltrack beginnt als schwereloser Vokaljazz und verwandelt sich nahtlos in kantigen Artrock. Das 22-minütige „Afterimage“ startet mit finsterer Loungemusik, driftet für eine formlose Ewigkeit in den Freejazz ab und endet in komponierter Einheit – in einer sich höher und höher schraubenden Noise-Spirale.

Alle Bandmitglieder bekommen Raum für Soli. Außer Eisenberg! Die feinen Klangkaskaden, die aus ihrem Instrument fließen, sind das Bindeglied, das diese ausdehnenden Stücke zusammenhält. Genau wie mit ihrem Gesang, – eine unaufdringliche, klare Sopranstimme –, spielt sie sich auch als Instrumentalistin auf „Viewfinder“ nie unnötig in den Vordergrund.

Bei Wendy Eisenberg geht es nie um musikalisches Mackertum. Sondern immer um maximale Klarheit, die schärfer schneidet als jeder Laser.

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