Von Hasen und Engeln

Nach 50 Jahren Berlin-Marathon gibt es viel zu erzählen: von einem Außenminister mit der Startnummer 1111 über Abkürzungen mit der U-Bahn bis zu einer schlecht gelaufenen Bundestagswahl – und vieles mehr von A bis Z

Mitten in der Stadt: Anfang der achtziger Jahre startete der Berlin-Marathon erstmals am Reichstag Foto: Günter Schneider/imago

Von Johannes Kopp
und Martin Krauss

Absage Zum Ausfall einzelner Läuferinnen und Läufer haben schon diverse Viren beigetragen. Das Coronavirus und die Ungewissheit über Infektionswellen sorgten 2020 für die bislang einzige Absage des Berlin-Marathons.

Berlin Brandenburger Tor, Siegessäule, ­Gedächtniskirche, Gendarmenmarkt – Marathon­bilder sind bessere Werbung als schlechte Dreizeiler. Ob Konzerte, Ausstellungen oder Sport – Hunderttausende kommen, Millionen schauen auf den diversen Medienkanälen zu, und so gehört der Marathon zu modernem Stadtmarketing. Andere nennen es Eventkapitalismus.

Cierpinski Er nannte seinen Neuankömmling Falk. Doch Marathon lief Waldemar Cierpinskis Sohn auch. In Berlin 2008 wurde Falk etwa Neunter und damit bester Europäer. Den Überschwang, mit dem sein Vater, der 2-fache Olympiasieger, 1980 im DDR-Fernsehen gefeiert wurde, erlebte Falk allerdings nicht.

Doping – Die Veranstalter schmücken sich mit den ungewöhnlich schnellen Zeiten auf den Berliner Straßen, aber mit Doping soll das wie allerorten nichts zu tun haben. Aufsehenerregende Manipulationsskandale sind ausgeblieben. Ein Land ist schon mal fein raus. „Wir leben in Äthiopien – wozu brauchen wir Doping“, sagt einst der viermalige Berlinsieger Haile Gebrselassie. Das Gros der Teilnehmer, die Freizeitläufer, bleibt eh ungetestet.

Essen – Im Unterschied zum Doping gibt es hierzu belastbare Zahlen. Entlang der Strecke in Berlin gibt es an 15 Verpflegungsstellen 200.000 Äpfel und Bananen sowie 250.000 Liter Wasser. Auch Tee und Energieriegel mit sogenannter Hydrogeltechnologie werden gereicht. Das klingt verdammt fortschrittlich.

Frauen – Der erste Marathon in Berlin vor 50 Jahren war fast ein reiner Männerlauf. Nur sieben Frauen waren damals am Start. Ihr Anteil an der Teilnehmerschaft lag bei 3 Prozent. Jahr für Jahr ist dieser Anteil bis auf nun 35,6 Prozent gestiegen. Wenn man wollte, könnte man angesichts der Bewerberinnenzahlen Geschlechterparität herstellen.

Gebet – Ohne Gottesanbetung läuft’s nur bei wenigen. Schon seit vielen Jahren werden christliche Marathonis, die lieber vor als während des Laufs innehalten wollen, am Vortag in die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz zu einem ökumenischen Gottesdienst eingeladen. Anderen reicht ein Stoßgebet auf der Strecke.

Hermannplatz – Neukölln gilt manchen als No-go-Area, auch für den Marathon gilt: Der Bezirk ist eine No-run-Area. Zunächst wird über den Kottbusser Damm exakt an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln gelaufen, und am Hermannplatz kommt die scharfe Rechtskurve auf die Hasenheide, wo der erste deutsche Turnplatz stand. Nix Neukölln.

International – Im Jahr 1981 speiste sich das Teilnehmerfeld noch aus 30 Nationen. Nun haben sich Läuferinnen und Läufer aus 161 Nationen angemeldet. Die meisten kommen aus den USA (etwa 7.700). Genannt werden sollten künftig nur die Länder, die keine Teilnehmer stellen. Was für ein Affront!

Joschka – „Mein langer Lauf zu mir selbst“, so nannte der 2000er-Teilnehmer Josef Fischer (bescheidene Startnummer 1111) sein Buch, in dem er erklärte, dass Dicke „ihren übergewichtigen Zustand subjektiv als ein bedrückendes persönliches Defizit“ empfinden. Später hat’s ihm objektiv wieder geschmeckt.

Kipchoge – In Berlin lief er vor zwei Jahren Weltrekord: 2:01 Stunden. Im vergangenen Jahr feierte Eliud Kipchoge aus Kenia seinen fünften Sieg bei einem Berlin-Marathon. Doch der beste Langstreckenläufer der Gegenwart fehlt heuer. Ob der 39-Jährige überhaupt noch laufen wird, ist unklar.

Literatur – Seine Bestzeit erreichte Günter Herburger (1932–2018) in den 1980er Jahren in Berlin: 3:04,42 Stunden. Der Schriftsteller lief und schrieb darüber. Über den damaligen Start­ort notierte er: „Das schwarze Reichstagsgebäude glich einem Frosch, eingesunken in Formaldehyd.“

Milde-Familie – Begründer des Berlin-Marathons ist der heute 85-jährige Horst Milde, der immer noch an der Strecke steht. 30 Jahre lang war er, lange neben seiner Tätigkeit als Bäckermeister, der Renndirektor dieser exponentiell wachsenden Veranstaltung, ehe er sie seinem Sohn Mark 2004 übergab – in beste Hände offenkundig.

Nachhaltigkeit – Ohne ein Bekenntnis zur Nachhaltigkeit geht hier niemand auf die Straße. Auch der „50. BMW Berlin-Marathon“ sucht selbstverständlich „ein optimales Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz“. Soll heißen: Mehrwegbecher und Abfalltrennung. Läuft doch.

Olympia 1936 – 56 Läufer waren unterwegs, nur Männer, und sie rannten über die Havelchaussee, recht lange am Wasser entlang, und dann noch über die Autorennstrecke Avus. Gewonnen hat, wie es offiziell heißt, „Kitei Son (Japan)“. Doch weil der gebürtige Koreaner eigentlich Kee Chung Son hieß, senkte er bei der Siegerehrung den Kopf. Aus Protest.

Pippig – In New York hat sie gesiegt, in Boston sogar dreimal. Und in Berlin hat Uta Pippig auch dreimal gewonnen, zuerst den berühmten Wiedervereinigungsmarathon 1990, der durchs Brandenburger Tor führte. Sie lebt in den USA, ist aber beim Berlin-Marathon jedes Jahr als Expertin gefragt.

Qualifikation – Können ist nebensächlich, es kommt eher auf das Glück an. Berlin gehört mit Boston, London, Chicago, New York und Tokio zur Marathonserie der Big Six. Die Vergabe der Startplätze für Freizeitläufer erfolgt bei allen sechs Veranstaltungen über ein Losverfahren. Wer sich für einen guten Zweck einspannen lässt, kann selbst bei ausverkauftem Rennen einen Startplatz bekommen. Auch in dir steckt ein Engel, heißt das Motto für die Charityteilnehmer. Fliegen ist aber nicht erlaubt.

Rollstuhlrennen – Seit 1981 sind Rollstuhlfahrer beim Berlin-Marathon dabei. Legendenstatus hat der Schweizer Heinz Frei, der seit seiner Premiere 1985 stolze 20 Mal als Erster über die Ziellinie rollte. Mit dem Jubiläumsmarathon will der 66-Jährige nun seine Karriere beenden. Ausklingen lassen wäre die falsche Wortwahl. Am Tag davor ist er noch bei der Rad-WM in Zürich beim Handbike-Wettbewerb am Start.

Spitzenhonorare – „Dabei sein ist alles“ gilt schon lange nicht mehr. Die Besten verdienen einiges. Ganz Genaues weiß man nicht. Über Antrittsgelder wird geschwiegen. Eliud Kipchoge, der Ausnahmeathlet in der Marathonszene, dürfte sich seine bevorzugten Berlinauftritte bestens vergüten lassen. Für seinen Sieg im vergangenen Jahr hat er 30.000 Euro bekommen. Mit einem Weltrekord wären noch einmal 50.000 Euro dazugekommen.

Tempomacher – Umgangssprachlich Hasen genannt, sind sie diejenigen, die das Tempo eines Favoriten hoch halten sollen und dafür früher das Rennen beenden. Einer wurde berühmt: Sammy Korir trieb 2003 Paul Tergat (beide Kenia) zum Weltrekord, stieg allerdings nicht aus, sondern wurde mit einer Sekunde Rückstand Zweiter.

U-Bahn – Eine Art Siegerinterview gab eine Frau einst nach ihrem Lauf einem TV-Sender aus der Stadt. Sie wurde als schnellste Berlinerin gefeiert, ehe dann herauskam, dass sie die U-Bahn genutzt hatte, um schneller voranzukommen. Ein Klassiker unter den plumpesten Betrugsversuchen. Schon in den 80er Jahren stellten die Veranstalter in Berlin Kontrollposten an den U-Bahn-Aufgängen auf.

Verschiebung – Die politische Wirkung des Marathons: Im nächsten Jahr, 2025, wird nicht am letzten Septembersonntag gelaufen, sondern bereits eine Woche früher. Grund: Der Marathon soll nicht schon wieder mit der Bundestagswahl kollidieren. 2021 waren in vielen Berliner Wahllokalen die Stimmzettel ausgegangen, aber wegen der marathonbedingten Straßensperren konnten neue nicht mehr geliefert werden. In etlichen Bezirken musste die Bundestagswahl wiederholt werden.

Weltrekord – Berlin ist eine schnelle Strecke, flach, nicht so viele Kurven, und das frühherbstliche Wetter gilt auch als besonders leistungsfreundlich. Schon 13 offizielle Weltrekorde wurden hier aufgestellt, etwa 2023 von Tigist Assefa (Äthio­pien) im Frauenmarathon (2:11,53 Stunden) und 2022 von Eliud Kipchoge (Kenia) im Männermarathon (2:01,09 Stunden).

XXL-Event – Zur Premiere konnte man 1974 noch per Hand 286 Pioniere zählen. Für Außenstehende ein kleiner Haufen von Verrückten. Beim 50. Jubiläumsmarathon machen 58.212 Menschen mit. So viele wie noch nie. Selbst beim bislang teilnehmerstärksten Marathon in New York waren letzthin nur knapp 52.000 Läuferinnen und Läufer dabei.

Yoga – Für Ausdauerläufer gibt es seit geraumer Zeit schon spezielle Angebote. Schließlich gibt es ja auch Yoga für Hunde. Im Begleitprogramm des Berlin-Marathons kann eine „Lunch Break Yoga Session“ gebucht werden. Eigene Matte gerne mitbringen!

Zweistundenmarke – Eliud Kipchoge hat’s vorgemacht. In 1:59,40,2 Stunden lief der ke­nia­nische Wunderläufer 2019 in Wien die Marathonstrecke. Allerdings ohne Wettkampfbedingungen, sagt der Leichtathletik-Weltverband, nur das Guinnessbuch erkennt den Rekord an. Berlin darf also weiterhoffen: auf den ersten Unter-zwei-Stunden-Marathonlauf der Geschichte.