„Ostdeutschland ist die Avantgarde“

Die Landtagswahlen haben gezeigt, wie sehr die liberale Demokratie in Gefahr ist. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder über Brandmauern, den Erfolg von Markus Söder und das Problem mit der Schuldenbremse

Eine Brandmauer sollte anders aussehen Foto: Florian Boillot

Interview Sabine am Orde
und Stefan Reinecke

taz: Herr Schroeder, ist die liberale Demokratie in Deutschland nach den Landtagswahlen in einer existenzbedrohlichen Krise? Die AfD hat am Donnerstag im Thüringer Landtag ja eindrucksvoll vorgeführt, dass sie ihr an den Kragen will.

Wolfgang Schroeder: Die liberale Demokratie wird nicht mehr als alternativlos betrachtet. Ihr Anspruch, alle mitzunehmen und anzuerkennen, wurde zwar auch in den vergangenen 70 Jahren nie ganz eingelöst: Es gab immer dominante Gruppen und weniger anerkannte. Aber inzwischen haben wir es mit Akteuren wie der AfD zu tun, die diese Integrationsdefizite politisieren.

taz: Sie haben jüngst eine Studie zur Brandmauer gegen die AfD auf kommunaler Ebene in Ostdeutschland gemacht, die Ihren Ergebnissen zufolge besser funktioniert als gedacht. Wie das?

Schroeder: Unsere Hypothese war, dass die Brandmauer stark angeschlagen ist, weil die Leute vor Ort sich kennen und doch nur über Sachthemen entscheiden, also Ampeln und Bürgersteige. Wir haben die 2.400 Anträge der AfD in den ostdeutschen Kreistagen von 2019 bis 2024 untersucht. 80 Prozent wurden abgelehnt, nur bei 10 Prozent gab es relevante Unterstützung. Im Zeitverlauf nimmt die Unterstützung sogar ab. Die demokratischen Parteien wollen mit der AfD nicht gemeinsame Sache machen. Es gibt ein Bewusstsein der Gefährdung. Das kann sich in der Folge der Kommunalwahlen 2024, bei denen die AfD gewonnen hat, allerdings wieder verändern.

taz: Die AfD hat in den Landtagen in Thüringen und Brandenburg eine Sperrminorität, kann also Entscheidungen blockieren, für die es eine Zweidrittelmehrheit braucht, etwa die Ernennung von Verfassungsrichtern. Ist jetzt automatisch ein Loch in der Brandmauer?

Schroeder: Die AfD ist damit in einigen Bereichen als anerkannter Akteur in der Arena der Verhandlungen, des Kompromisses und Tausches. Vermutlich lassen sich sogar Tauschgeschäfte nicht vermeiden.

taz: War die Strategie von Dietmar Woidke in Brandenburg „Ich oder die AfD“ sinnvoll mit Blick auf die Sicherung der liberalen Demokratie?

Schroeder: Da gibt es zwei Lesarten. Es war erfolgreich, weil die AfD nicht stärkste Partei wurde. Aber für die Pluralität des Parlaments, die Koalitionsbildung und die Repräsentation ist es problematisch. Im Parlament ist etwa die Ökologie nicht mehr authentisch vertreten.

taz: SPD und CDU müssen mit dem BSW zusammenarbeiten – also Bündnisse eingehen, die sie nicht wollen. Nutzt das der AfD?

Schroeder: Ja, die Überdehnung von Koalitionen gegen die AfD könnte ihr langfristig in die Hände spielen. Allerdings: Das BSW ist zwar antiwestlich, antieuropäisch eingestellt, aber das ist auf der Länderebene eher unwichtig. In der Sozial- und Gesellschaftspolitik steht das BSW zwischen SPD und CDU. Offen, ob und wie sie im politischen Alltag überhaupt auffallen.

taz: Ist das Parteimodell des BSW mit einer kleinen, handverlesenen Gruppe brauchbar?

Schroeder: Es ist sehr erfolgreich, um in das parlamentarische System zu kommen. Aber in diesem Erfolg ist bereits das Gen des Untergangs enthalten. Denn in der modernen Massenkommunikation müssen sich die Akteure vor Ort profilieren. Das kollidiert mit dem Top-down-Modell von Gefolgschaft und Führung. Außerdem: Die programmatische Bindekraft des BSW hat Wagenknecht über den Ukrainekrieg hergestellt. Der Krieg wird nicht ewig dauern.

taz: Das BSW ist also nicht sonderlich gefährlich?

Schroeder: Doch, doch, sie tragen dazu bei, die Mitte unter Druck zu setzen und den populistischen Wettbewerb zu befeuern. Und Oskar Lafontaine verfolgt jetzt im zweiten Anlauf die Mission, die Sozialdemokratie zu zerstören. Die Melange zwischen gesellschaftlich konservativ und sozialstaatlich kann durchaus attraktiv für ein älteres Publikum sein, das eigentlich sozialdemokratisch tickt.

taz: Ist das BSW vielleicht nicht doch ein neuer Parteitypus für die Ära nach den Volksparteien?

Schroeder: Die Zentrierung auf einen vermeintlichen Star an der Spitze scheint mir nicht nachhaltig zu sein. Aber wir erleben einen zweiten Umbruch des Parteiensystems. Parteien waren lange eng an gesellschaftliche Milieus wie Arbeiter oder die Kirche gebunden. An deren Stelle traten die Massenintegrationsparteien, die Volksparteien, deren Niedergang in den 80er Jahren begann, weil sie vor der Heterogenität der Gesellschaft kapitulieren. Was wir jetzt erleben, ist eine Niederlandisierung und Französiesierung des deutschen Parteiensystems.

taz: Das heißt?

Schroeder: In den Niederlanden sind 15 Parteien im Parlament vertreten, von denen nur eine über 20 Prozent gekommen ist. Eine vorherrschende Partei, die einen großen Teil der Wähler hinter sich vereinen kann, gibt es nicht. Alles hängt davon ab, aus den vielen Parteien eine kluge Koalition zu formen.

taz: Und Französierung?

Schroeder: In Frankreich wirst du nur Parteimitglied, wenn du Aktivist bist, also Kreistagsabgeordneter oder Kassierer in der Partei bist, also als Funktionsträger. Bei dieser Französierung ist Ostdeutschland die Avantgarde.

taz: Volksparteien sind also ein Auslaufmodell?

Schroeder: Zumindest sind sie so, wie sie jetzt aufgestellt sind, nur bedingt aktiv und integrativ. Parteien müssen rasch mit Inhalten, Bildern, Ideen, Symbolen auf wechselnde Themen reagieren. Dafür braucht man eher Werbeagenturen als schwerfällige Gremien.

taz: Die CDU rühmt sich, die letzte verbliebene Volkspartei zu sein. Kann sie das bleiben?

Schroeder: Vielleicht, weil sie programmatisch abstinent ist, mithin pragmatisch, situativ auf Basis von wenigen grundlegenden Überzeugungen agiert. Umso schärfer sie sich programmatisch positioniert, umso mehr Widersprüche und Konflikte produziert sie im Innern.

taz: Merz stärkt das konservative Profil der CDU. Ist das falsch?

Schroeder: Merz macht es dann falsch, wenn er scharfe Positionen bezieht, die ihn in Widerspruch zur Wertebasis seiner Partei bringen. Man braucht in der Aufmerksamkeitsgesellschaft eine gewisse Zuspitzung, ohne beliebig zu werden. Aber die Fähigkeit, die Position wechseln zu können, ist wichtig.

taz: Dann macht es ausgerechnet Markus Söder richtig, der gestern die Grünen umarmt hat und sie jetzt erbittert bekämpft?

Schroeder: Ja, Söder ist ein Beispiel für diese populistische Art. Scholz verweigert sich diesen Stimmungen. Das ist vermutlich auch ein Grund, warum er unbeliebt ist. Wer sich am Markt der Stimmungslagen und Emotionen nicht beteiligt, ist im Nachteil.

taz: Insgesamt wird das Parteiensystem also chaotischer?

Schroeder:Parteien werden mehr und wendiger. Parteien wie die SPD und die Grünen müssen sich fragen, wie sie Emotionalität, Schnelligkeit und Beständigkeit so austarieren können, dass sie selbstbewusst und souverän agieren können. Wenn die Parteien das nicht hinbekommen, dann sind nicht nur sie gefährdet. Dann ist die gesamte Ordnung in Gefahr. Für die Grünen ist dieses Ausbalancieren zwischen Fernzielen und aktueller Politik am schwersten.

taz: Warum?

Foto: privat

Wolfgang Schroeder,

64, ist Professor für Politikwissenschaft in Kassel. Er war Staats­sekretär im Brandenburger Arbeitsministerium und Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

Schroeder: Weil sie von den Menschen am meisten verlangen. Aus der Dringlichkeit der Klimakrise leiten sie ab, dass sofort gehandelt werden muss. Sie scheinen nicht zu akzeptieren, dass die Plausibilität der eigenen Position immer wieder aufs Neue geschaffen werden muss. Die Strategie von gestern kann die falsche für heute sein. Die Gesellschaft wird älter und tut sich mit Veränderung schwerer. Das ist zentral. Wer mit 35 Jahren ein Haus baut, ist offen für neue Technologien. Wer über 60 ist, neigt eher dazu, die Modernisierung der Heizung für eine Aufgabe der Kinder zu halten – und das Heizungsgesetz für eine Zumutung und Bedrohung. Gerade die Parteien, die Veränderungen wollen, müssen Kommunikation, vor allem die Schnelligkeit der Schritte an die Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaft anpassen.

taz: Die Ampel wollte eine Fortschrittskoalition sein, laut einer Umfrage will sie keiner mehr: null Prozent.

Schroeder: Die Erzählung von der Fortschrittskoalition ist zusammengebrochen. Das ist ein Desaster. Es hat viel mit der Schuldenbremse zu tun, die unter heutigen Bedingungen eine Zukunftsvermeidungsbremse ist. Die Regierung hätte sich an zwei Punkten neu aufstellen können und müssen: nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds im Herbst 2023. Da hat sich die Geschäftsgrundlage der Koalition verändert. Man hätte schärfer über Investitionen, Zukunftsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit diskutieren müssen.

taz: Welche Möglichkeiten haben Parteien der linken Mitte, auf die Herausforderung durch die extreme Rechte zu reagieren?

Schroeder: Drei. Erstens: Staat und Investitionen, dazu braucht es eine kluge Modifizierung der Schuldenbremse. Das Zweite sind Gerechtigkeitsthemen, die nachvollziehbar sind. Es ist unverständlich, dass die Schattenwirtschaft und die Kriminalität so hoch ist und der Staat so wenig Gegenmacht entwickelt, weil Richter und Polizei fehlen. Bei beiden Punkten zeigt sich: Der Bundesregierung gelingt es nicht, schlecht Funktionierendes exemplarisch anzupacken. Scholz könnte zum Beispiel eine Taskforce aufstellen, die zeigt, wie er die Bahn reparieren will, und dabei mit einer Mischung von gerechtigkeits und funktionalen Herangehensweisen arbeiten. Gerechtigkeitsorientiert wäre zu sagen, dass der Bahnvorstand keine 1,2 Millionen bekommt, sondern 500.000 Euro. Und die Mitarbeiter bekommen einen Bonus, wenn es erkennbar besser wird. Positive Symbolik fehlt.

taz: Und der dritte Punkt?

Schroeder:Drittens: die Repräsentationskrise, eines der dramatischsten Probleme. Es ist den Parteien nicht gelungen, im Bereich der politischen Repräsentation in der Fläche Angebote zu machen, also für Betriebsräte, für Altenpfleger, für Leute, die in der Mitte der Gesellschaft stehen. Um die liberale Demokratie zu verteidigen, muss man die Mitte stabilisieren.