Bekämpfung von Aids: Die Revolution wird aufgeschoben

Der Wirkstoff Lenacapavir verhindert HIV-Infektionen sicher und könnte den Kampf gegen Aids verändern. Doch ein Pharmariese sperrt sich.

Mann und Frau im Labor

Xolile Mhlanga arbeitet mit Proben von Lenacapavir an der Desmond-Tutu-Gesundheits-Stiftung in Kapstadt Foto: Nardus Engelbrecht/AP

Im Kampf gegen Aids hat es sie immer wieder gegeben, die Momente, in denen Medikamente den Lauf dieser Pandemie grundsätzlich verändert haben. 1987 zum Beispiel. Die Immunschwächekrankheit wütete ungebremst in den queeren Communitys von San Francisco bis München, Infektionen und Todeszahlen stiegen, Panik machte sich breit. Damals wurde mit Azidothymidin (AZT) erstmals ein Medikament gefunden, das einen Effekt auf HI-Viren zeigte. Auf Dauer versagte AZT zwar, aber die Forschung hatte einen ersten Erfolg.

1996 kam der Durchbruch. Zusammen mit zwei weiteren Wirkstoffen wurde AZT als kombinierte antiretrovirale Therapie (ART) verabreicht. Durch die ART konnte das HI-Virus endlich kontrolliert werden. Die Pa­ti­en­t*in­nen sind damit zwar noch nicht geheilt, aber die Therapie verhindert den Ausbruch von Aids und drückt die Viruslast so weit nach unten, dass Ansteckungen unmöglich sind.

Heute steht der Kampf gegen HIV/Aids vor neuen Herausforderungen. Medizinisch ist HIV zwar längst unter Kontrolle gebracht, doch viele Menschen, besonders in ärmeren Ländern, erhalten die lebensrettenden Medikamente nicht. Dadurch bleibt die Zahl der Neuinfektionen hoch, besonders unter jungen Frauen. Das könnte der neueste Durchbruch ändern.

Lenacapavir heißt der Wirkstoff, den der Pharmariese Gilead aktuell in mehreren großangelegten klinischen Studien testet. In einer ersten Studie zeigte Lenacapavir einen hundertprozentigen Schutz vor Neuinfektionen, eine zweite Studie immerhin noch einen Schutz von 96 Prozent. Das allein ist noch kein Durchbruch, andere Medikamente, die prophylaktisch verabreicht werden, können ähnliche Ergebnisse erzielen. Doch der Clou: Lenacapavir muss nicht mehr täglich als Tablette eingenommen werden, sondern wird zweimal jährlich gespritzt – das kommt fast einer Impfung gleich.

Aids – ein Stigma

„Das würde unsere Arbeit von Grund auf revolutionieren“, sagt Anne Githuku-Shongwe, Unaids-Direktorin für Ost- und Südafrika. Etwa die Hälfte der weltweit rund 40 Millionen Menschen, die mit HIV leben, kommen aus dieser Region. Allein im vergangenen Jahr kamen 400.000 Neuinfektionen hinzu, 260.000 Menschen starben an Aids, damit war die Region erneut trauriger Spitzenreiter.

Dabei haben die Staaten der Region in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, einige erreichen etwa die hohen vorgegebenen Ziele im Bezug auf die Versorgung mit Tests und Medikamenten. Doch besonders da, wo die Versorgungslage kritisch, die politische Lage unsicher und die Diskriminierung hoch ist, hat das Virus noch immer leichtes Spiel, so Githuku-Shongwe.

„Deswegen ist Lenacapavir für mich ein feministisches Medikament“, erklärt Winnie Byanyima, die Vorsitzende von Unaids, auf der Welt­aidskonferenz in München. Die Infektion sei nach wie vor mit einem großen Stigma verbunden, Frauen könnten es sich nicht erlauben, mit den Tabletten erwischt zu werden. Doch zweimal im Jahr eine Spritze zu bekommen, sei einfacher, sicherer und logistisch machbarer. Deshalb bringt Byanyima bereits den Nobelpreis für die Entdeckung ins Spiel. Lenacapavir sei ein maßgeblicher Baustein, um HIV und Aids endlich zu besiegen.

In der EU zugelassen

Bereits im Jahr 2022 wurde Lenacapavir in der EU zugelassen. Damals allerdings als Medikament bei einer bereits bestehenden HIV-Infektion und nicht als Prophylaxe vor einer Ansteckung. Trotz Zulassung ist Lenacapavir in Deutschland nicht auf dem Markt. Das liegt am Preis. Damit dieser vom Patentinhaber selbst festgelegt werden kann, muss in Deutschland ein sogenannter Zusatznutzen nachgewiesen werden. Diese Regelung soll verhindern, dass Pharmaunternehmen viele sehr ähnliche Produkte auf den Markt bringen und diese als Innovation teuer verkaufen. Ohne Zusatznutzen darf ein neues Medikament nur zehn Prozent weniger kosten als ein ähnliches, bereits auf dem Markt befindliches.

Siegfried Schwarze hat dies für das Magazin der Deutschen Aidshilfe berechnet. Zum Vergleich zieht er das HIV-Medikament Rukobia heran. Rukobia ist auf dem deutschen Markt erhältlich und wird von Krankenkassen übernommen. Das Medikament kostet 31.944 Euro pro Jahr. Zieht man die 10 Prozent ab, ergibt das für Lenacapavir 28.750 Euro.

Doch das reicht Gilead nicht. Der Konzern verlangt für die beiden Spritzen rund 40.000 Euro. Dabei ist die Herstellung viel billiger. Andrew Hill, Pharmakologe an der Universität Liverpool, hat die Rohstoff- und Produktionskosten ausgerechnet und kommt bei einer Gewinnmarge von 30 Prozent auf einen Preis von 40 Dollar pro Jahr. Gilead verlangt das Tausendfache.

Das Unternehmen begründet den hohen Preis mit den Forschungskosten. Seit 17 Jahren arbeite man an Lenacapavir, und obwohl der Wirkstoff ein großer Erfolg sei, gebe es auch viele fehlgeschlagene Studien, die bezahlt werden müssten. Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe, will das so nicht stehen lassen. „Fantasiepreise“ seien das, was Gilead verlange. Dass die Kosten für Medikamente die reinen Produktionskosten übersteigen, findet Wicht legitim, Forschungskosten müssten bezahlt und Gewinne erlaubt sein. Gilead schieße aber über das Ziel hinaus und sei intransparent in der Preisgestaltung. Deshalb „erwarten wir von Gilead, dass sie ihre Kalkulationen offenlegen“, so Wicht.

Hohe Kosten

Die Preispolitik weckt Erinnerungen an die anderen großen Durchbrüche im Kampf gegen Aids. Als die kombinierte antiretrovirale Therapie 1996 der Infektion endlich ihren Schrecken nahm, war davon in ärmeren Ländern nichts zu spüren. Für den Globalen Süden waren die Medikamente unbezahlbar.

In Südafrika versuchte die damalige Mandela Regierung die Produktion der Wirkstoffe im eigenen Land zu geringen Kosten zu ermöglichen – und wurde umgehend wegen des Bruchs von Patentrechten von 40 internationalen Pharmakonzernen angeklagt. Der Preis verhinderte die Einfuhr, die Klage die Eigenproduktion. In den Folgejahren starben bis zu 300.000 Süd­afri­ka­ne­r*in­nen im Jahr an Aids. Im Jahr 2005 war die Lebenserwartung auf 53 Jahre kollabiert.

Deshalb fordern Unaids und die Deutsche Aidshilfe, dass Gilead Lenacapavir für den Patentpool freigibt. Dieser ermöglicht die Herstellung von Generika, also Nachahmermedikamenten mit identischer Wirkung, für ärmere Länder. Damit könnte Gilead in den reichen Ländern weiterhin hohe Profite einfahren und gleichzeitig Abertausende von Infektionen in den besonders betroffenen Regionen der Welt verhindern.

Winnie Byanyima, Unaids-Vorsitzende

Lenacapavir ist für mich ein feministisches Medikament“

Gilead zeigt sich grundsätzlich offen für diese Idee, die Verhandlungen laufen. Der Konzern fordert ein stärkeres Engagement der Staaten. Das könnte darin bestehen, dass sich reichere Staaten verpflichten, größere Mengen Lenacapavir abzunehmen. Doch in Zeiten multipler Krisen rückt der Kampf gegen HIV/Aids vielerorts in den Hintergrund. Damit sinkt auch die Zahlungsbereitschaft. Die Verhandlungen könnten sich hinziehen.

„Für mich als Frau, die mit HIV lebt, ist es ein Wettrennen gegen die Zeit“, sagt Yvette Raphael auf der Welt­aidskonferenz in München. Sie ist Vorsitzende von Apha, einer Nichtregierungsorganisation, die gegen HIV und für die Rechte Betroffener kämpft. „Meine Tochter ist HIV-negativ, und ich will, dass sie das in zwei Jahren auch noch ist. Deswegen brauchen wir dieses Medikament.“

Yvette Raphael rechnet aber nicht damit, dass es eine schnelle Lösung gibt. Noch vier oder fünf Jahre werde es dauern, bis Lenacapavir auch in ärmeren Ländern verfügbar werde, sagt sie. Das hält auch Winnie Byanyima, die Vorsitzende von Unaids, für wahrscheinlich.

Lenacapavir kann eine Revolution im Kampf gegen Aids sein, ein Meilenstein in der Prävention. Doch die Geschichte hat gezeigt: Das Virus muss man nicht nur medizinisch, sondern auch politisch besiegen. Denn um wirklich eine Revolution zu sein, muss Lenacapavir auch die Menschen erreichen, die es am dringendsten benötigen. Bevor es so weit sein wird, werden noch einige Jahre vergehen – und sich mehrere Millionen Menschen unnötigerweise mit dem HI-Virus infizieren.

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