Gesine Schwan über Migrationspolitik: „Nicht die eigenen Werte verraten“

In einem Brief kritisiert Gesine Schwan mit weiteren SPD-Politiker*innen die Migrationspolitik ihrer Partei. Die SPD bringe Hetze hervor, warnt sie.

Eine Frau schaut ernst zu ihrem Gegenüber.

Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin, auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2023 Foto: Bernd Elmenthaler/imago

taz: Frau Schwan, Sie haben Ihrer eigenen Partei einen offenen Brief mit dem Titel „Eintreten für Würde“ geschrieben. Steht die SPD momentan nicht für Würde ein?

Gesine Schwan: Die SPD steht unter großem Druck, Maßnahmen zu ergreifen. Sie muss auf die aufgeheizte Stimmung in der Öffentlichkeit reagieren. Manche Aussagen in den Medien und durch konkurrierende Parteien gefährden die Würde von Migranten. Allein das ständige Sprechen von Abschieben ist ein Problem. Das Abschieben führt zahlenmäßig zu keiner Lösung. Unter dem Druck der Radikalisierung der Öffentlichkeit ist die SPD in Gefahr, auch rhetorisch mitzumachen bei Formulierungen, die ich für gefährlich für die Würde des Menschen halte.

taz: Die SPD handelt ja nicht nur durch Rhetorik, sondern macht Gesetze. Wieso wird vor allem seit dem Anschlag in Solingen statt über Islamismus fast ausschließlich über Migration diskutiert?

Schwan: Weil wir in einer Zeit des Wahlkampfes sind und weil sowohl für rechte Parteien, aber auch für die CDU unter Friedrich Merz Migration das erfolgreichste Mittel ist, Wahlen für sich zu gewinnen. Der Grund ist nicht die Migration an sich: Wir sehen, dass seit 2022 die Zahlen zurückgehen.

taz: Was fordern Sie stattdessen?

Schwan: Einen anderen Ansatz in der Migrationspolitik, in dem statt auf Abschreckung auf eine partnerschaftliche Politik gesetzt wird: Eine Politik, in der die Kommunen erheblich mehr mitwirken können bei der Frage der Aufnahme von Geflüchteten. Wir haben das Problem, dass die Menschen sich nicht gesehen fühlen. Hier braucht es mehr Teilhabe. Und ich bin für positive Anreize und Freiwilligkeit.

taz: Wie könnte das aussehen?

Ich bin dafür, dass ein deutscher oder europäischer Fonds eingesetzt wird, mit dem die Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen, Geld bekommen für die Integration und in gleicher Höhe für eigene Belange. Nur so können wir regulieren. Migranten werden immer einen Weg finden. Und die Wirtschaft will sie. Das sehen wir am Beispiel des Brexit. In Großbritannien leben viermal so viele Ausländer wie zuvor. Wir müssen mit der empiriefernen Migrationspolitik, die Hetze hervorbringt, aufhören.

81, ist Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. 2019 kandidierte sie mit Ralf Stegner für den Parteivorsitz.

taz: Wieso hat nur eine Handvoll Bundestags- und Europaabgeordnete den Brief unterschrieben?

Schwan: Weil ein großer Druck auf den Amtsträgern lastet, geschlossen aufzutreten. Die Europaabgeordneten, die den Brief unterzeichnet ­haben, sind aber die Kenner der Materie. Sie wissen, dass das, was momentan diskutiert wird, völlig abseits der Realität ist.

taz: Aber wie ist dann ein Kurswechsel möglich?

Schwan: Ich beschäftige mich seit 2016 mit diesem Thema. Es ist schwierig. Es ist viel Zeit verstrichen, in der man konstruktive Lösungen hätte finden können. Aber man muss sie anwenden, wenn man nicht die eigenen Werte und die Zukunft der SPD verraten will.

taz: In dem Brief heißt es, dass „führende So­zi­al­de­mo­kra­t*in­nen einen Diskurs der Ausgrenzung und Stigmatisierung mitbefeuert haben“. Ist das noch Ihre SPD?

Schwan: Es ist sowieso meine SPD. Ich bin seit 1972 in dieser Partei und habe immer wieder öffentlich mit meiner SPD diskutiert. Das betraf unter anderem die Griechenlandpolitik. Ich höre intern das Eingeständnis, dass die Führung auch Zweifel am aktuellen Kurs hat, aber es nicht öffentlich sagt. Die SPD bleibt meine Partei. Ich werde nicht austreten. Genau wie ich nicht aus der katholischen Kirche austrete.

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