„Wir brauchen jeden Einzelnen“

Daniel Domscheit-Berg ist Mitbetreiber des offenen Kreativraums Verstehbahnhof in Fürstenberg/Havel

Foto: privat

„Das Wahlergebnis ist eine massive Katastrophe. Die AfD ist nur ganz knapp an einer Mehrheit vorbeigerutscht, die Rechtsextremen haben einen enormen Zulauf von jungen Wählern. Das kommt alles nicht überraschend, aber es ist richtig bitter. An diesem Ergebnis kann man nichts schönreden. Im Moment ist die einzige Hoffnung, die ich irgendwie habe, dass diese brutale Realität jetzt bei allen mal durchsickert, dass alle verstehen, was hier eigentlich passiert.

Ich war am Samstag beim CSD in Oranienburg: Es ist mir unbegreiflich, dass ich mit Mitte 40 heute zu so einer Veranstaltung gehen muss, weil ich dort Solidarität zeigen muss, weil ich Angst um meinen Nachwuchs habe. Das hätte ich mir in meinem Leben nicht träumen lassen. Und ich verstehe den Hass nicht. Da sind am Samstag auch rechte Jugendliche aus Fürstenberg angereist, die ich kenne, um gegen den CSD zu demonstrieren. Mit welcher Missachtung die uns gegenüberstanden – unbegreiflich. Warum können solche Leute, die sich stark fühlen wollen, nicht die Champions der Schwachen sein statt sich gegen die Schwächsten zu wenden? Ich verstehe es nicht.

Umso engagierter müssen wir jetzt nach dieser Wahl sein, wie auch immer das gehen soll. Wir sind ja schon alle ganz schön engagiert. Aber vielleicht müssen wir noch mal reflektieren, auf welchen Wegen wir Menschen erreichen. Wir haben da auch als Verstehbahnhof eine Riesenaufgabe vor uns: Wir sind ja ein Bildungsprojekt und es gibt ein massives Bildungsproblem, gerade bei den jungen Menschen, aber nicht nur dort. Daran müssen wir aktiv arbeiten. Wir müssen mit Leuten reden, müssen versuchen, sie abzuholen, dort, wo sie gedanklich stehen und ihnen erklären, warum die AfD keine Politik macht, die ihnen und anderen nützt. Dass das vollkommen wahnwitzige Ideen sind. Das ist aber eine Aufgabe für uns alle: Reden mit den Nachbarn, mit den Eltern in unseren Schulen, mit den Leuten in unseren Sportvereinen. Wir müssen den Diskurs suchen, egal, wie unangenehm der auch sein mag. Das ist das Allerwichtigste. Niemand hier in Brandenburg kann sich mehr verstecken und das an irgendjemand anderen abgeben.

Natürlich wird unser Projekt im Visier der AfD stehen. Die nehmen ja alle ins Visier. Selbst die Feuerwehren, wenn die Partei etwa fordert, den Landesjugendring nicht mehr zu fördern. Und in den Feuerwehren sind nun mal die jungen Leute. Da sind den meisten die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser AfD-Forderungen überhaupt nicht bewusst.

Mit dem Verstehbahnhof versuchen wir, uns jetzt finanziell bestmöglich unabhängig zu machen. Aber das wird nicht leicht. Vieles kann man ehrenamtlich machen, aber wenn wir irgendwann die Miete nicht mehr zahlen können, dann ist Schluss. Aber wir müssen alle weitermachen. Wir dürfen jetzt nicht umziehen, nicht den Kopf in den Sand stecken, nicht unsere Projekte infrage stellen. Wir dürfen denen nicht das Feld überlassen. Im Gegenteil. Alles, was wir machen, ist heute relevanter denn je. Wir brauchen jeden Einzelnen. Und wir müssen uns organisieren, damit die Schwächsten geschützt werden können für den Tag, an dem der Damm bricht. Die Neunziger dürfen sich nicht wiederholen.“

Protokoll: K. Litschko