Wenn die Tochter nicht zur Schule geht: Der Absentismus-Vorwurf

Unsere Tochter ist krank und geht seit Monaten nicht zur Schule. Die Schule erkennt ihre Krankheit an und hilft. Die psychosomatische Ärztin nicht.

Ein Tafelschwamm liegt unter der Tafel eines Klassenzimmers.

Ein Ort, der manchen viel Angst macht: Klassenzimmer, hier in Berlin Foto: dpa | Fabian Sommer

Vor einiger Zeit habe ich ein neues Fremdwort kennengelernt. Anlass war ein Gespräch über die Tatsache, dass unsere 15-jährige Tochter nicht zur Schule geht. Während ich von Schulangst sprach, nannte mein Gegenüber (eine Sozialpädagogin) es „Absentismus“. Ich mochte das Wort nicht. Es schüchterte mich ein und klang für mich mehr nach Alkoholismus oder Faschismus als nach dem weinenden Häuflein Elend zuhause im Bett, das meine Tochter war.

Wikipedia verriet mir: „Absentismus ist die Neigung von Personen, einem Termin, einer Verpflichtung oder einer Vereinbarung nicht nachzukommen, obwohl es keine Verhinderungsgründe (wie etwa Krankheit) gibt.“

Es wird als Synonym für Schulschwänzen verwendet und bezeichnet also einfach die Verletzung der Schulpflicht. Seit 1919 gilt in Deutschland für alle Kinder nicht nur das Recht auf den Schulbesuch, sondern auch die Pflicht. Immer wieder gibt es Kritik daran. Vor einem Jahr versuchte in Hamburg wieder eine Initiative unter dem Titel „Zukunft lernen – Bildung ohne Zwang“ erfolglos die Unterschriften für ein Volksbegehren zusammenzubekommen, um die Rahmenbedingungen für Lernen in der Schule zu verbessern und auch Unterricht außerhalb der Schule zu ermöglichen.

Leider würden bei der Abschaffung der Anwesenheitspflicht wahrscheinlich nicht nur die Kinder zuhause bleiben, die nicht in das „System Schule“ passen, sondern vielmehr diejenigen, deren Eltern das gesamte „System Deutschland“ nicht passt. Die Reichsbürger und völkischen Siedler-Fuzzis würden gerne ihre Kinder zuhause behalten, um sie dort in Ruhe zu indoktrinieren.

Ich wünschte einfach, die Schule wäre für mein Kind ein Ort, an den es gerne ginge

Ich möchte meine Tochter nicht zuhause beschulen. Der Heimunterricht in der Coronazeit hat mir vollkommen gereicht. Ich wünschte einfach, die Schule wäre für mein Kind ein Ort, an den es gerne ginge.

Schulabsentismus ist übrigens eine Ordnungswidrigkeit. In Hamburg verhängte die Schulbehörde im Jahr 2022 rund 1.500 Bußgelder. Auch Jugendarrest oder die „zwangsweise Zuführung“ zur Schule durch die Polizei sind keine Ausnahmen.

Die Gründe der Schulverweigerung werden durch solche Maßnahmen leider nicht behoben. Einer der größten Risikofaktoren für Schulabsentismus ist Schulversagen. Unsere Tochter hatte durchweg sehr gute Noten. Trotzdem – oder genau deswegen – muss sie große Versagensängste gehabt haben. Mit 15 Jahren komplett erschöpft von ihren eigenen Ansprüchen – oder den gesellschaftlichen oder sogar von meinen?

Jetzt haben die Verletzungen ihrer Seele Vorrang vor der Verletzung der Schulpflicht und ständig habe ich das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen.

Gerade hatten wir ein Vorgespräch in einer Psychosomatischen Tagesklinik, in dem die Ärztin wieder von Absentismus sprach und mir dafür klar die Verantwortung gab. Ich hätte sie gerne darauf aufmerksam gemacht, dass es sich in Olivias Fall laut Definition NICHT um Absentismus handelt, da es einen klaren – ärztlich attestierten – Verhinderungsgrund gibt: Sie ist krank! Und gerade, weil ich mir meiner Verantwortung bewusst bin, waren wir gekommen. Aber ich habe geschwiegen.

Der Ort, von dem wir keine Vorwürfe oder Druck bekommen haben, ist die Schule selber. Man hat Olivia schon beim Beginn der Probleme von Klausuren und Noten befreit und ihr sogar einen Raum zum Zurückziehen bereitgestellt. Als sie gar nicht mehr kommen konnte, war man sehr betroffen, hat uns nicht mit Strafen gedroht, sondern uns vertraut.

Jetzt, nach einem halben Jahr, beginnt Olivia (unterstützt von Schule und Behörde) zuhause mit mobilem Unterricht, damit sie die Angst langsam überwinden lernt. Nur wenige Familien in unserer Lage haben das Glück, nicht gegen die Schule kämpfen zu müssen und ihre begrenzen Kräfte für das Wesentliche einsetzen zu können: für das Wohl des Kindes.

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Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de

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