Skandal um älteste jüdische Zeitung: Großer Vertrauensverlust

Die fehlerhaften Berichte des Elon Perry erschüttern den „Jewish Chronicle“. Vier Prominente Autoren beenden die Zusammenarbeit. Was ist da los?

Ein Mann und zwei Frauen an SChreibtischen, historische Aufnahme

„Jewish Chronicle“ ist die älteste jüdische Tageszeitung der Welt. Redaktionsbüro in London 1951 Foto: Jewish Chronicle Archive via imago

London taz | Es ist ein Paukenschlag in der britischen Medienlandschaft: Anfang September kündigten vier namhafte Kolumnisten an, ihre Zusammenarbeit mit dem 1841 gegründeten Jewish Chronicle (JC) zu beenden – der ältesten, durchgehend erscheinenden jüdischen Zeitung der Welt.

Es sind der Journalist und Autor David Aaronovitch, der Comedian David Baddiel, der Guardian-Kolumnist Jonathan Freedland und die Sunday-Times-Journalistin Hadley Freeman. Mit dem Rücktritt wollen sie gegen den Kurs der Zeitung protestieren, der auch international hohe Wellen schlägt

Im Zentrum des Skandals stehen sensationelle Berichte, die sich als falsch herausstellten, eine Blattlinie, die immer unkritischer über die rechte Netanjahu-Regierung berichtet, und mangelnde Transparenz über die Eigentümer der Zeitung.

Die Krise begann mit einem Bericht des freien Journalisten Elon Perry vom 5. September. Perry, laut eigenen Angaben Geschichtsprofessor, Veteranjournalist und Soldat der renommierten Golani Brigade der israelischen Armee (IDF), berief sich wie in vielen seiner Artikel auf Insiderquellen innerhalb der israelischen Sicherheitsbehörden. Er behauptete etwa, dass Hamas-Chef Jahia Sinwar mit den restlichen israelischen Geiseln durch Tunnel nach Ägypten und schließlich in den Iran fliehen will.

Laut Berichten in den israelischen Zeitungen Haaretz und der Yedioth Ahronoth gibt es allerdings keine Beweise dafür. Ein Dokument, auf das sich Perry bezog, ist wohl eine Fälschung. Seine Behauptung kommt Premier Benjamin Netanjahu sehr gelegen: Nur einen Tag zuvor warnte er vor genau diesem Szenario. Deshalb spekulieren viele, dass seine Regierung, hinter den gefälschten „Leaks“ stehen könnte. Die IDF hat nun Ermittlungen eingeleitet.

Sämtliche Artikel von Yifrach gelöscht

Perry selbst spricht von einer Hexenjagd auf ihn. Doch inzwischen wurde nicht nur diesem Artikel scharf widersprochen. Große Teile Perrys Lebenslaufs scheinen frei erfunden zu sein. Laut der israelischen Nachrichtensendung Hazinor heißt Perry in Wahrheit Eli Yifrach. Ein Professor der Tel Aviv University soll er nie gewesen sein, bis auf seine neun Artikel für den Jewish Chronicle scheint er vorher auch kein Journalist gewesen zu sein. Auch Teile seiner militärischen Laufbahn, etwa die Behauptung, er sei 1976 an der Befreiungsaktion nach einer Flugzeugentführung in Entebbe beteiligt, werden stark angezweifelt.

JC hat inzwischen sämtliche Artikel von Yifrach alias Perry gelöscht und sich in einem kurzen Statement entschuldigt. Nach einer internen Ermittlung sei die Zeitung mit seinen Angaben „unzufrieden“ und habe die Zusammenarbeit beendet. „Wir entschuldigen uns bei unseren treuen Lesern und haben unsere internen Abläufe überprüft, damit sich so etwas nicht wiederholt.“

Doch wie die Zeitung die verfälschten Dokumente oder unbelegten Behauptungen in Perry/Yifrachs Artikeln überprüft haben will und welche Maßnahmen nun konkret unternommen werden, bleibt unklar. Auf eine Anfrage der taz reagierte die Zeitung nicht.

Es ist nicht das einzige Problem für die traditionsreiche jüdische Wochenzeitung, die eine verkaufte Auflage von 16.000 Exemplaren und monatlich 1,17 Millionen Online-Besucher:innen hat. Seit einigen Jahren sinken die Leser:innenzahlen, während der Covid-Pandemie stand JC vor dem Aus.

Mysteriöses Konsortium

Bis 2021 ein laut der britischen Zeitung Jewish News mysteriös entstandenes Konsortium die Zeitung mit 2,5 Millionen Pfund (knapp 3 Millionen Euro) rettete. Der damalige Vorsitzende des JCs bezeichnete es damals gegenüber der Financial Times als schändlichen Versuch, die Zeitung an sich zu reißen.

Zahlreiche Namen des neuen Eigentümerkonsortiums wurden offen genannt – etwa Sir Robbie Gibb, ein ehemaliger Regierungssprecher unter Theresa May, der das Konsortium leiten soll. Auch zwei Journalisten, ein Rechtsanwalt und ein Rabbiner gehören dazu. Allerdings steht nur Gibbs Name im Handelsregister. Woher man einen Kredit von 2,5 Millionen Pfund erhalten habe, verrät er nicht.

Es sei in den vergangenen hundert oder mehr Jahren beispiellos, dass nicht offengelegt werde, wer eine bedeutende britische Zeitung übernimmt, kritisierte vergangene Woche der ehemalige Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger in der Zeitung Independent. Drei Quellen hätten ihm gesagt, dass das Geld von einem rechten Milliardär aus den USA stamme, der Netanjahus Likud-Partei politisch nahestehen soll.

Der Investor dementiert das. Eine taz-Anfrage dazu ließ der JC unbeantwortet. „Es liegt am Jewish Chronicle und seinen Besitzern selbst, die Eigentumsstruktur offenzulegen“, sagt Tim Chivers von der Media Reform Coalition, einer Kampagne, die sich für eine demokratische Medienlandschaft einsetzt.

Noch brisanter als sonst

„Das ist allgemein ein Problem in der britischen Unternehmensführung, aber es ist noch brisanter, wenn es um eine Nachrichtenorganisation geht, die wegen schwerwiegender Verstöße gegen redaktionelle Standards unter Beschuss steht.“

Kritisiert wird auch, dass sich die Zeitung nach ihrer Rettung nicht verbesserte. Der neue Chefredakteur Jake Wallis Simons ist in seinen politischen Ansichten nicht weniger rechts als sein Vorgänger Stephen Pollard.

Auch deshalb sind nun die vier bekannte Kolumnisten zurückgetreten. Hadley Freeman kritisierte in der BBC, dass JC keine redaktionellen Standards mehr habe, sondern eher einer Ideologie folge. Jonathan Freedland schrieb auf X, dass die Zeitung „sich zu oft wie ein parteistrategisches, ideologisches Instrument“ lese.

Auf taz-Anfrage sagt David Baddiel, Autor des Buches „Jews Don’t Count“: „Ich wollte einfach nicht mehr für den Jewish Chronicle schreiben“ und schloss sich Freedlands Kritik an. Ein freier Mitarbeiter des JCs, der anonym mit der taz sprach, stimmt der Kritik teilweise zu. „Er hatte jedoch durchaus versucht, verschiedene Ansichten in die Zeitung zu bringen“, sagt er über Chefredakteur Simon.

„Spektakulärer“ Abgang

Einen „spektakulären“ Abgang wie den der vier abgesprungenen Star­ko­lum­nis­t:in­nen könne er sich nicht leisten. „Ihre vernichtende Kritik schwärzt nun Journalisten wie mich an“, moniert er.

Gleichzeitig fordert auch er mehr Transparenz bezüglich der neuen Eigentümer. „Das muss öffentlich gemacht werden“, sagt er. „Auch um der Verbreitung von antisemitischen Verschwörungstheorien rund um die Zeitung entgegenzutreten.“

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