Erfinder des nahrhaften Menschen

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (202): Kolibakterien siedeln gern im Darm, denn da ist es futterwarm

Hübsche Kolibakterien unter dem Mikroskop Foto: manfred rohde/hzi

Von Helmut Höge

Die Mikrobiologin Lynn Margulis kritisierte ihre Kollegen: „Sie haben keine Ahnung von der Vielfalt des Lebens. Sie glauben, weil etwas in Escherichia coli ist, wissen sie etwas darüber.“ Wie zum Beispiel der Biologiephilosoph Jacques Monod: „Was für E.coli wahr ist, muss auch für den Elefanten wahr sein.“

Die Bakterien entstanden vor etwa 3,5 Milliarden Jahre und sind mit Abstand die häufigsten Lebewesen, gefolgt von Einzellern (mit einem Zellkern), Pilzen, Pflanzen und Tieren. E.coli Bakterien siedeln gern in unserem Darm. Man sagt, sie haben einst nur deswegen Vielzeller wie uns entwickelt, damit sie immer ein gutes Nährmedium haben. Und noch ich-kränkender: Sie sind es auch, die uns drängen, auf dieses oder jenes plötzlich einen wahren Heißhunger zu haben.

Kolibakterien können aber auch ohne uns leben – überall: in der Luft, im Wasser, in der Erde. Wir können dagegen nicht ohne sie leben. Sie sind für uns die wichtigsten Symbionten.

Escherichia coli wurde 1919 nach dem Wiener Bakteriologieprofessor Theodor Escherich benannt, der sich 1886 als Kinderarzt mit einer Forschungsarbeit über „Die Darmbakterien des Säuglings“ habilitierte. E.coli lässt sich im Labor leicht vermehren, was unter günstigen Bedingungen alle 20 Minuten durch Teilung geschieht. An der Universität Wisconsin gelang es vor einiger Zeit, das „Nummer-eins-Labor-Arbeitspferd E.coli“ zu sequentieren. Nun weiß man: Sein „Chromosom“ ist 4,6 Mio. Basenpaare lang und enthält 4.288 „Gene“, aber davon sind 40 Prozent „komplette Rätsel“.

Berühmt wurde E.coli vor allem durch die Arbeiten des Genetikers Jacques Monod, der mit amerikanischem Geld in Paris ein ganzes Institut um E.coli herum gründete. Zusammen mit seinen Kollegen André Lwoff und François Jacob bekam er für seine Forschung 1965 den Nobelpreis. In den Siebzigerjahren kam es zwischen Jacob und Monod zum Streit: Ersterer wollte zukünftig weiße Mäuse erforschen, für ihn hatte E.coli nicht mehr genug Individualität, um sich weiter ernsthaft mit ihm zu beschäftigen.

In seinem Buch „Die Maus, die Fliege und der Mensch“ (1998) schrieb er: „Ich wollte eine Veränderung. Seit 15 Jahren ließ ich nun schon ausgesuchte Bakterienpaare im Takt kopulieren. Ich hatte nichts dagegen, eine Art Guru der Sexualität zu werden, aber nicht der Bakteriensexualität. Auch wollte ich etwas Sichtbares, mit Hormonen, Leidenschaften, mit einer Seele. Ich wollte Tiere, denen man ins Auge blicken, die man individuell erkennen, ja benennen konnte. Und die fähig waren, einem auch selbst in die Augen zu blicken.“

Ein Bakterium „träumt“ bloß davon, da war sich François Jacob sicher, „zwei zu werden“. Wobei seine Sexualität, anders als bei uns, mit der Vermehrung nichts zu tun hat, sie vermehren sich ungeschlechtlich. Ihre Sexualität besteht aus Berührungen, bei der Gen-Geschenke übergeben werden. Dies geschieht durch direkten Körperkontakt oder mittels Proteinfäden, sogenannten Sexual-Pili, die aus der Distanz von einem Bakterium zum anderen hinüberwachsen. Die Fortpflanzung geschieht dagegen durch Teilung, wobei sich die Chromosomen sowie auch die im Zellplasma integrierten Organellen ebenfalls teilen. Auf diese Weise ist E.coli quasi unsterblich. Und weil alle Bakterien miteinander Gene austauschen können, gibt es nicht etwa eine Million Arten oder mehr, sondern eigentlich nur eine.

Jacobs Kollege am Collège de France, Michel Foucault, fragte sich: „So lange man es zu tun hat mit einem, relativ gesehen, so einfachen Organismus wie einem Bakterium, kann man dann wirklich von einem Individuum sprechen?“ Präziser gefragt: „Kann man sagen, dass es einen Anfang hat, da es schließlich nur die Hälfte einer früheren Zelle ist, die ihrerseits die Hälfte einer anderen Zelle war und so weiter bis in die fernste Vergangenheit des ältesten Bakteriums der Welt?“ Oder – in die andere Zeitrichtung gefragt: „Kann man sagen, dass es stirbt, wenn es sich teilt, zwei Bakterien Platz macht, die unabhängig bestrebt sind, sich alsbald ihrerseits zu teilen?“

Das Sterben, der Bruch im Gedächtnis, tritt erst mit der Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung ein. Ich erinnere nur an den Seufzer des Dichters Peter Rühmkorf: „Ach könnte man doch angelesene Eigenschaften vererben!“

Einer von Foucaults Lieblingsbegriffen war der „Würfelwurf“, er fand ihn in François Jacobs „biologischer Geschichtsschreibung“, die „uns zeigt, wie und warum man das Leben, die Zeit, das Individuum, den Zufall ganz anders denken muß“ – und zwar von „hier aus: in unseren Zellen“.

Man schätzt, dass in und auf uns zehnmal so viele Bakterien leben wie wir Körperzellen haben, sie wiegen insgesamt zwei Kilo. Aber diese Schätzungen haben etwas Absurdes, denn mit einem einzigen Gramm unserer Scheiße scheiden wir bereits 100 Milliarden Individuen aus. Wobei E.coli es mit seiner ex­tremen Säureresistenz nahezu problemlos schafft, durch Mund und Magen zurück in unseren Dickdarm zu gelangen.

Andere Säugetiere, vor allem Wiederkäuer wie die Kuh, sind in ihrem Pansen bakteriell noch viel üppiger ausgestattet als wir, weswegen die Mikrobiologin Lynn Margulis sagen kann: „Der Pansen – das ist die Kuh.“

15 Jahre ließ der Forscher die Bakterien im Takt kopulieren, dann wollte er sich verändern

Noch reichhaltiger und komplizierter sind die Bakteriensymbiosen im Verdauungsapparat von Termiten, die von extrem nährstoffarmem Holz leben. Ähnliches gilt für Koalabären und Biber: Sie sterben, wenn sie zu wenige Darmbakterien der Mutter mit ihrem Kot aufgenommen haben. Wenn Menschenkinder durch einen Kaiserschnitt auf die Welt kommen, fehlen ihnen ebenfalls lebenswichtige Bakterien, die ihnen ihre Mutter sonst im Geburtskanal mitgegeben hätte. In einer New Yorker Klinik wickelt man deshalb per Kaiserschnitt geborene Säuglinge in Tücher, die mit der Scheidenflüssigkeit ihrer Mutter getränkt werden.

Kürzlich entdeckten US-Forscher unerwarteterweise mehrere Raupenarten, die gar keine Bakterien in ihren Verdauungsorganen haben. Umgekehrt erforscht die Meeresbiologin Nicole Dubilier, Leiterin der Abteilung Symbiose im Bremer Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie, einen Meereswurm ohne Verdauungsorgane, der sich mit Hilfe von fünf Bakterienarten ernährt. Der Wurm führt ihnen mit dem Meereswasser nur Schwefelwasserstoff zu, das sie durch Sulfidoxidation in Energie umwandeln.

Für den Biologen Bernhard Kegel sind die Bakterien „Die Herrscher der Welt“, wie er 2015 sein Buch über sie nannte. Da sie in und an fast allen Lebewesen sind, gibt es für ihn „kein Einzelwesen“. Die Idee einer essenziellen Identität ist rein fiktiv.