Eine Gruppe von Menschen auf einer Dorfstraße hält ein Plakat mit dem loge der Grünen

Grüne haben es schwer auf dem Land in Brandenburg Foto: Sven Döring/laif

Grüner Wahlkampf in Brandenburg:Die Antifa heißt hier Alexander

In Thüringen und Sachsen haben die Grünen verloren. Auch in Brandenburg drohen sie aus dem Landtag zu fliegen. Jetzt kommt westliche Wahlkampfhilfe.

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Aus senftenberg, 14.9.2024, 20:06  Uhr

Das Büro der Grünen in der Bahnhofstraße von Senftenberg ist so voll wie noch nie. Nicht mal die Stühle reichen für alle. Fünf einheimische Wahl­kämp­fe­r*in­nen sind an diesem Samstag für die Partei unterwegs – und sechs weitere aus Recklinghausen. Nach drei Stunden am Wahlkampfstand machen nun alle gerade Mittagspause. Auf dem Tisch steht Sahnetorte aus dem veganen Café in der Innenstadt – so etwas gibt es mittlerweile sogar im Süden Brandenburgs, wo bei der Europawahl nur 2,6 Prozent die Grünen wählten.

„Mit so vielen Leuten macht der Wahlkampf eine ganz andere Wirkung. Es gibt auch ein Stück Sicherheit. Zu zweit hat man das nicht“, sagt Anne Zimmermann, die 15 Kilometer entfernt in Ruhland lebt und dort mit ihrem Mann bei der letzten Kommunalwahl kandidiert hat.

Anne Zimmermann, Grüne Senftenberg

„Mit so vielen Leuten macht der Wahlkampf eine ganz andere Wirkung. Es gibt auch ein Stück Sicherheit“

„Ist euch denn schon mal was Schlimmeres am Stand passiert?“, fragt einer der Gäste aus Nordrhein-Westfalen.

„Nee. Wir haben bisher keinen gemacht“, antwortet Zimmermann.

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Solche Gespräche gibt es in diesen Wochen oft bei den Grünen. Im Osten passiert im Moment eigentlich wenig, was der Partei Mut macht. Bei der Landtagswahl in Thüringen ist sie aus dem Parlament geflogen, in Sachsen hat sie fast die Hälfte ihrer Mandate eingebüßt. Auch in Brandenburg droht bei der Wahl in einer Woche das Aus, in den letzten Umfragen stehen die Grünen bei 4,5 bis 5 Prozent. Mit den Parlamentssitzen gehen Macht, Personal und Geld verloren – ein Problem gerade auf dem Land, wo die Grünen ohnehin schwach vertreten sind.

Drei Wahlkämpfe kosten viel Kraft
Eine Illustration. Mehrere Kreise sind mit Strichen miteinander verbunden. Die Kreise haben unterschiedliche größen und Farben. Sie sind rot, gelb, grün und Blau.

Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.

Zumindest etwas Gutes hat der Gegenwind aber: Das Interesse am Osten ist in der Partei so groß wie lange nicht. Auf dem Parteitag im letzten Herbst hatte der Bundesverband die Kreisverbände aufgerufen, Partnerschaften zwischen West und Ost zu bilden. In den letzten Wochen sind Hunderte Mitglieder und etliche Abgeordnete nach Sachsen, Thüringen und Brandenburg gereist. Manche Grüne nahmen sich sogar wochenlang Urlaub oder verlegten ihr Homeoffice, um vor Ort anzupacken.

Sie helfen dort, wo die Grünen ihre Wahlkämpfe traditionell mit wenigen Leuten stemmen müssen und wo mittlerweile viele ausgelaugt sind. Der Europa- und Kommunalwahlkampf hat den Mitgliedern dieses Jahr schon viel abverlangt, und dann hat sich der Einsatz vielerorts nicht mal ausgezahlt. Der Rechtsruck nagt an den Reserven. Die Unterstützung aus dem Westen, heißt es aus der Partei, ist da eine große Hilfe.

„Für manche von unseren Leuten ist das ein Grund, überhaupt in den Wahlkampf zu starten“, sagt Carolin Poensgen, die als Kreisgeschäftsführerin die wenigen Fäden der Grünen in Senftenberg zusammenhält. „Wenn extra Besuch aus Recklinghausen kommt, müssen wir ja was machen.“

36 Mitglieder hat die Partei im Landkreis, rund 10 davon sind regelmäßig aktiv, alle neben ihren Jobs und manche neben der Familie. Zu wenig für einen effektiven Wahlkampf in einer Region, die flächenmäßig so groß ist wie Berlin und München zusammen. Sie haben es zwar geschafft, ihre Plakate aufzuhängen, sogar in den Orten ohne Grünen-Mitglieder. Der letzte Social-Media-Eintrag auf den Parteikanälen ist aber zwei Monate alt.

Hilfe aus Recklinghausen

Fliegt die Partei aus dem Landtag, ist die Geschäftsstelle in der Bahnhofsstraße in Gefahr. Der Kreisvorstand hat schon nachgerechnet: An drei Tagen die Woche, so wie jetzt, könnten sie auf keinen Fall mehr öffnen. Vielleicht kriegen sie noch die Miete zusammen. Am Wahlkampfmaterial müssten sie dann aber sparen. Büro oder Plakate – nach der Landtagswahl ist das vielleicht die Frage.

Der Kreisverband Recklinghausen, zwischen Ruhrpott und Münsterland gelegen, hat über 500 Mitglieder und kam bei der Europawahl auf knapp 10 Prozent. Nicole Uschmann, die Vorsitzende, hatte den Aufruf auf dem letzten Parteitag gehört. „Das müssen wir machen“, habe sie sofort gedacht – weil sie sah, wie wenige Leute für die Ostverbände auf der Bühne standen, und weil sich schon abzeichnete, dass die AfD bei den Wahlen weiter zulegt. „Das kann bei uns auch noch kommen“, sagt sie. „Warum sind die dort schon einen Schritt weiter? Man findet das am besten raus, wenn man hinfährt.“ Auf Senftenberg sind sie im Kreisverband dann gekommen, weil beide Regionen etwas gemeinsam haben. Die Lausitz ist wie das Ruhrgebiet eine Kohleregion. Der Strukturwandel trifft beide, im Westen sind sie nur etwas weiter.

Gegen 9 Uhr trifft der Trupp auf dem Marktplatz ein, als Stand dient ein Lastenrad mit großem Grünen-Logo. CDU und SPD sind nicht am Platz. Am meisten Raum hat sich die AfD genommen, gleich vorne an der Kreuzung, wo jeder vorbei muss. Daneben stehen die Freien Wähler und das BSW.

Die zwei Wagenknecht-Männer, ehemalige Linke, grüßen freundlich. Man kennt sich. So viele Grüne auf einem Haufen haben sie aber noch nie gesehen. „Bündnis 90 gab’s damals auch in Senftenberg“, sagt einer der beiden. „Die sind aber alle nicht lange dabeigeblieben. Hat nicht gepasst.“ Einer, der in der DDR als Bürgerrechtler auf der Straße war, saß für die Grünen über 30 Jahre im Stadtrat von Senftenberg. Parteimitglied ist er bis heute nicht.

Das grüne Milieu fehlt vielerorts

Was den Gästen aus Recklinghausen als erstes auffällt: Es macht nichts, dass sie ohne die kleinen Windräder gekommen sind. Eigentlich wollten sie die Werbeartikel mitbringen, aus dem Europawahlkampf hatten sie welche übrig. Vor der Abfahrt haben sie dann aber den Schlüssel zum Lagerraum nicht gefunden.

Machen sie zu Hause Wahlkampf, gehen die Windräder als erstes weg. Der Markt am Wochenende ist dort ein Hotspot für Familien. Die Eltern haben zwar keine Zeit für Gespräche, aber die Kinder lieben die Dinger. In Senftenberg dauert es eine halbe Stunde, bis der erste Vater einen Kinderanhänger am Stand vorbeizieht. Neben dem Jungen im Wagen steckt schon ein Flyer der AfD.

Auch in Recklinghausen ist die Bevölkerung seit den Neunzigern geschrumpft, das Durchschnittsalter liegt dort aber immer noch vier Jahre unter dem in Senftenberg. Seit der Wende haben Millionen Menschen das Gebiet der ehemaligen DDR verlassen. Die Weggezogenen waren oft jung, gut gebildet und weiblich. Die Grünen sind eine Milieupartei, doch das Milieu, das sie trägt, fehlt im Osten vielerorts.

Als einer der ersten tritt an diesem Tag ein Rentner im Camp-David-Shirt an den Grünen-Stand. „Der Fischer hat erst Polizisten verprügelt und ist dann Außenminister geworden“, sagt er.

Betretene Blicke hinter dem Lastenrad. „Das war vor unserer Zeit“, murmelt einer.

„Ich fand’s gut. Da war noch Power dahinter“, sagt der Rentner. Und dann weiter: „Schlimm ist das mit der AfD.“

Jetzt tauen die Gäste auf. „Was glauben Sie, warum die Leute AfD wählen? Würde mich mal interessieren“, fragt Nicole Uschmann.

„Die haben keinen Grund. Den Leuten geht es doch nicht schlecht hier“, antwortet der Mann. Das ist natürlich eine Frage der Perspektive. Vergleicht man das Durchschnittseinkommen deutscher Landkreise, liegt die Region um Senftenberg im letzten Viertel. Der Kreis Recklinghausen liegt aber noch weiter hinten.

Wahlkampfstand der Grünen

Viele Gespräche werden am Wahlstand auf dem Marktplatz geführt. Wie viel sie bewirken, ist nicht immer klar Foto: Sven Döring/laif

Die Unterhaltung gestaltet sich dann jedenfalls sehr freundlich, es geht um die Auflagen für Angler in Deutschland und um die Nationale Volksarmee, die den Camp-David-Mann einst nicht nehmen wollte, weil seine Verwandten einen Ausreiseantrag gestellt hatten. „Wollen Sie noch Knete für die Enkel?“, fragt Uschmann den Mann zum Abschied. „Hören Sie auf, wir haben so viel Knete daheim!“, antwortet er. „Aber viel Erfolg, euer Engagement ist gut!“

Ein grüner Tankstellenbetreiber

Der Vormittag auf dem Markt zeigt aber auch, warum es die Grünen in diesem Wahlkampf so schwer haben. Der nächste Passant, kurz vor dem Rentenalter, nimmt sich einen Flyer vom Stand und scannt das Programm. „Klingt ja wirklich gut“, sagt er dann. „Mir ist das zu eng an den fünf Prozent.“ Dann ist er weg.

Bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen haben die Grünen die meisten Stimmen an die CDU verloren. Die Union hatte auch um deren Wäh­le­r*in­nen geworben: Sie müssten verhindern, dass die AfD stärkste Kraft wird. In Brandenburg spitzt die SPD den Wahlkampf zu. Ministerpräsident Woidke hat angekündigt, dass er zurücktritt, falls seine Partei hinter den Rechtsextremen landet. Den Grünen hier kann das Stimmen kosten.

Und natürlich machen ihnen auch ihre Inhalte Probleme. Kein Thema ist an diesem Vormittag zwar der Kohleausstieg, den die Grünen in Brandenburg vorziehen wollen. Über die Ausländer gibt es auch nur ein paar Beschwerden. Der Krieg in der Ukraine – der kommt aber immer wieder.

Etwas im Hintergrund hält sich Heiko Richter. Er ist erst seit einem halben Jahr bei den Grünen, auch für ihn ist es der erste Wahlkampfstand. Er betreibt aber eine Tankstelle in der Nachbarstadt, und dort, sagt er, halte er schon lange dagegen, wenn sich Kunden über Flüchtlinge, über die Energiewende oder eben über die Ukraine beschweren. Das gehe ganz gut. Zum Tanken kämen trotzdem noch alle.

Früher war er bei der Grenztruppe, erzählt Richter weiter, den Mauerfall habe er am Checkpoint Charlie in Berlin erlebt. Davor war er an der Offiziersschule in Suhl. „Wir haben gelernt, was jeder im Warschauer Pakt gelernt hat. Wie man angreift, wie man sabotiert, wie man sich auch den Rest Europas einverleibt. Putin wurde das damals auch beigebracht und heute weicht er keinen Millimeter von der Doktrin ab“, sagt er. Das geht also auch: Aus einer Ostbiografie heraus begründen, warum die Ukraine noch mehr Waffen bräuchte. Allerdings ist Richter damit in der Minderheit.

Früher war es besser

Die Antifa sieht das anders. Die Antifa heißt hier Alexander. Er will seinen Nachnamen nicht nennen und wohnt in einem Dorf in der Umgebung. Mit seiner Fahne steht er schon den ganzen Morgen auf dem Markt: Er will der AfD zeigen, dass es noch Menschen gibt, die anders ticken als sie.

Seit ein, zwei Jahren sind die Rechtsextremen seine größte Sorge. Schon davor sei er auf Demos gegangen, gegen den Überwachungsstaat und gegen Atomkraft. Er isst kein Fleisch, hat kein Auto, und seitdem es das 49-Euro-Ticket gibt, fährt er fast jedes Wochenende nach Kreuzberg. Das braucht er als Ausgleich zum Alltag in Brandenburg.

Alexander ist ein prädestinierter Grünen-Wähler. Aber wenn es um den Krieg geht, sprudelt es aus ihm heraus: Schon in der Schule war ihm der Wehrkundeunterricht zuwider. Nach der Wende wollte er nicht zur Bundeswehr. Und als sich der Warschauer Pakt auflöste, dachte er, die Nato müsse jetzt nachziehen. Tat sie aber nicht.

Die Grünen wählt er seit dem Kosovokrieg nicht mehr. Durch den Ukrainekrieg kommt alles wieder hoch. „Was für eine Doppelmoral“, sagt er. „Dort verteidigen wir angeblich Werte, aber an Saudi-Arabien verkaufen wir Waffen und die Amerikaner unterstützen wir bei allen möglichen Angriffskriegen.“ So gehe es hier vielen, die anderen zögen nur andere Schlüsse als er. Wen er noch wählen soll, weiß Alexander nicht.

Am Grünen-Stand gerät derweil Anne Zimmermann, die zum ersten Mal für die Partei auf dem Markt steht, mit dem nächsten Rentner aneinander.

„Man greift doch kein anderes Land an. Das ist Pfui!“, sagt sie.

„Putin möchte die Vorherrschaft der Amerikaner in der Ukraine unterbinden. Kyjiw ist die Wiege der Russen“, antwortet der Rentner. „Die sind ja eigentlich Bruderstaaten.“

„Und einen Bruderstaat greift man an?“, fragt Zimmermann.

„Sie haben mir nicht zugehört!“, ruft der Rentner.

Irgendwann wechselt die Grüne das Thema, sie will lieber über die Energiewende sprechen, aber erfolgreicher wird das Gespräch trotzdem nicht („Das geht technisch doch gar nicht!“ – „Doch!“ – „Nein!“).

Nicole Uschmann, Grüne Recklinghausen

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Leute in Senftenberg politik­verdrossener sind. Im Gegenteil. Aber sie haben keinen Bock mehr, etwas versprochen zu bekommen, was nicht eintreten wird“

Mit einem komplizierten Fall hat es währenddessen auch Nicole Uschmann aus Recklinghausen zu tun. Ein weiterer Rentner, natürlich, hat das Gespräch mit dem Vorwurf begonnen, die Grünen hätten ihm 50.000 Euro geklaut. Wie genau sie das gemacht haben, findet Uschmann nicht heraus, aber nach ein paar Minuten hört sie zumindest, was den Mann eigentlich bedrückt: In seinem Garten hegt er Pflanzen, die dort schon sein Großvater angebaut hat. Er macht sich Sorgen, ob er sie auch noch seiner Enkelin wird zeigen können. Weil er nicht weiß, ob er das Haus halten kann, und weil es sein kann, dass die Kinder wegziehen.

Ein Anruf bei Uschmann ein paar Tage nach dem Wochenende in Senftenberg: Was ist bei ihr am stärksten hängengeblieben? „Früher war es besser und die Zukunft wird schlechter, das Thema kam immer wieder“, sagt sie. Die Leute hätten eine diffuse Angst, etwas zu verlieren. Die Erzählung, dass alles besser werde, funktioniere nicht mehr. Es bringe dann auch nichts, ihnen etwas vorzumachen. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Leute dort politikverdrossener sind. Im Gegenteil. Aber sie haben keinen Bock mehr, etwas versprochen zu bekommen, was nicht eintreten wird.“

Am Nachmittag geht es nicht mehr zurück auf den Marktplatz, sondern um den Senftenberger See herum, der mal ein Tagebau war und schon zu DDR-Zeiten geflutet wurde. In den Dörfern am Ufer wollen die Grünen Flyer in die Briefkästen werfen. „Bitte nicht in die mit Aufklebern gegen Werbung“, mahnt Geschäftsführerin Poensgen. In der Landeszentrale gab es in den letzten Wochen schon massive Beschwerden.

Das grüne Lastenrad ist wieder dabei, dazu ein paar Leihräder für die Gäste. Heiko Richter, der Mann von der Tankstelle, hat sich für sein Mountainbike eine Lenkertasche gekauft, in die die Flugblätter genau reinpassen. „Radfahrer absteigen“, steht auf einem Schild, das der Konvoi am Stadthafen passiert. „Radfahrer absteigen“, knurrt ein Rentner, der dahinter mit seinem Rollator den Weg quert.

Der erste Ort auf der Strecke heißt Kleinkoschen. Dort stehen hübsche Einfamilienhäuser, einige mit Solaranlagen auf dem Dach, eines sogar mit Wärmepumpe und E-Auto in der Einfahrt.

„Ist die AfD hier auch stark?“, fragt Nicole Uschmann.

Anne Zimmermann nickt. 31,2 Prozent waren es bei der Europawahl, nur 4 Prozentpunkte weniger als im Landkreis insgesamt und doppelt so viel wie in Recklinghausen.

„Krass“, sagt Uschmann. „Das ist so behütet hier. Ist das der blanke Rassismus? Oder die Angst vor dem Abstieg?“

Zimmermann erzählt vom hohen Altersschnitt, von der Wende und den zwei Wellen der Arbeitslosigkeit in den Neunziger- und Nullerjahren. „Das ist im Gedächtnis und sobald jemand Unruhe stiftet, wie die AfD, kocht es wieder hoch“, sagt sie.

Betrunkene pöbeln die Grünen an

Der nächste Ort heißt Großkoschen. Am Ufer mündet der Radweg in einen Gehweg. Die Grünen erwischen die Abfahrt nicht. Und dann wird es plötzlich hektisch: Der Konvoi wird blockiert.

Männer mit Bierdosen in der Hand haben die Räder bemerkt. Die Gruppe war gerade aus einem Ausflugsbus mit Kennzeichen des Nachbarkreises gestiegen. Drei von ihnen bauen sich jetzt auf dem Gehweg auf und blöken los. Es geht ihnen um die Einhaltung der Verkehrsregeln einerseits und um das Lastenrad mit dem Parteilogo andererseits. Sie wollen den Grünen keinen Raum lassen. Aber die Grünen, zumindest die aus Recklinghausen, wollen den Raum auch nicht hergeben. „Ich schmeiß’ dich in den See“, brüllt einer der Ausflügler einem der Westdeutschen ins Gesicht, als der den Gehweg partout nicht verlässt. Ein anderer Grüner hat da schon die 110 am Telefon. Alles riecht nach der nächsten Schlagzeile. „Grüne in Brandenburg angegriffen.“

Es geht dann doch gut aus. Der nüchterne Teil der Ausflugsgruppe ruft die eigenen Männer zurück, Geschäftsführerin Poensgen leitet den letzten West-Grünen auf die Straße, der Konvoi kann weiterfahren. Die Polizei lässt sich zwar nicht so schnell abwimmeln. Wenn sie das Stichwort Wahlkampf hört, ist sie mittlerweile auf Zack. Aber als die Beamten nach ihrem fünften Rückruf nicht mehr durchkommen, weil die Grünen mittlerweile eine Badepause eingelegt haben und auf ihrer Rast keinen Handyempfang haben, holen auch sie ihre Streife zurück.

„Ich habe in Gelsenkirchen gearbeitet, ich habe schon Schlimmeres erlebt“, sagt Nicole Uschmann. „Bei mir stand mal ein Nazi im Büro“, sagt ein anderer aus ihrer Delegation, der zu Hause in Nordrhein-Westfalen im Landtag sitzt. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt etwas leiser Heiko Richter, der Tankstellenpächter aus dem Kreis. Er ist aber auch noch nie mit zehn anderen Grünen und einem Lastenrad durch die Gegend gefahren.

Schwieriges Mindset

Was war nun in Senftenberg anders als in Recklinghausen? „Eigentlich vereint uns mehr, als uns trennt“, sagt Uschmann in dem Telefonat unter der Woche. „Hier wie dort kennen es die Leute, dass ihnen etwas genommen wurde, worauf sie stolz waren.“ Im Ruhrgebiet bleibe immerhin noch der Kult um die eigene Bergbaugeschichte. Im Osten nur das Gefühl, dass man einverleibt wurde. Und was kann man da im Wahlkampf machen? „Bei denen, die mit 150 Prozent reingehen: Einfach mal reden lassen. Die wollen erzählen. Die haben was. Es bringt nichts, wenn wir die mit Sachargumente volllabern.“

Am Samstagvormittag auf dem Marktplatz gibt es noch so einen speziellen Fall: „Alles für Deutschland“, sagt am Stand ein Rentner mit Hut zur Begrüßung. Die verbotene SA-Lösung, für die kürzlich Björn Höcke verurteilt wurde. „Habe ich nur zitiert. Ist ja verboten.“

„Das hat ja auch einen historischen Hintergrund“, sagt Jan Matzoll, der Landtagsabgeordnete aus Recklinghausen.

Der Hutrentner wechselt das Thema, kommt auf den Nahostkonflikt: „Die Juden, denen man so viel angetan hat, machen jetzt dasselbe.“

Dahinter stecke jetzt aber ein schwieriges Mindset, erwidert Matzoll.

Der Hutrentner wechselt wieder das Thema: „In Schwarzheide hatten wir ja einen Betrieb mit sowjetischen Wissenschaftlern. Sind Sie von hier?“ – „Ich bin Abgeordneter in Nordrhein-Westfalen.“ – „Ein Berufspolitiker! Die Elite!“ Der Rentner zieht die Vokale in die Länge.

Matzoll könnte das Gespräch jetzt beenden, offensichtlich führt das hier zu nichts. Aber er hat Zeit, der Stand ist gut besetzt, und deshalb bleibt er dran. Fast eine Stunde lang wird er sich mit dem Mann unterhalten. Thematisch springen sie hin und her: Mal geht es um den Buddhismus in Tibet, dann um den alten polnischen Landadel und zwischendurch auch um die Wende und die Treuhand. Ob er danach anders über die Grünen denkt als zuvor? „Nö“, sagt der Rentner beim Abschied.

War das Gespräch nicht vergeudete Zeit? „Nein“, sagt Matzoll. „Ich habe ihn nicht überzeugt. Aber vielleicht erzählt er jemandem, dass er einen Grünen aus dem Westen getroffen hat, der auch nicht findet, dass bei der Wende alles super gelaufen ist. Wäre doch schon mal was.“

Zwischendurch hatte der Mann mit dem Hut erwähnt, dass er die Grünen noch nie auf dem Marktplatz gesehen habe. Er wollte schon mal in das Büro in der Bahnhofstraße gehen, aber immer, wenn er vorbei kam, war es geschlossen. Die Grünen kannte er bisher nur aus dem Fernsehen. Der Abgeordnete aus Recklinghausen war der erste von ihnen, den er in echt erlebt hat.

Wenn es blöd läuft, war er aber auch der Letzte.

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