Der Geist von Fröttmaning

Die neue Allianz Arena ist viel schöner, viel gewagter, viel großartiger, als man es ihren Initiatoren auch nur im Entferntesten zugetraut hätte

AUS MÜNCHEN CLEMENS NIEDENTHAL

Man wird es Uli Hoeneß missgönnen. Genauso Karl-Heinz Rummenigge und erst recht dem Beckenbauer, Franz. Man wird für einen Abend Trauer tragen, wenn Felix Magath, Oliver Kahn, Michael Ballack und sogar Bastian Schweinsteiger nächstes Jahr im Mai draußen in Fröttmaning, im neuen Stadion, in der Allianz Arena, Deutscher Meister werden. Wird sich vielleicht kurz mit Roy Mackay über dessen Torjägerkrone freuen. Weil der immer so bescheiden guckt und weil er an ein flinkes, possierliches Tierchen erinnert. Überhaupt wäre dem Holländer das erste Tor im neuen Bayern-Bau zu wünschen. Vermutlich aber wird es in der Eröffnungsspiel-Generalprobe am kommenden Montag fallen. Zwischen 1860 und dem 1. FC Nürnberg, den Löwen und den Clubberern. So viel Lokalkolorit wird selten sein in der Allianz Arena, die schon in ihrem Standort das Weltläufige, aber auch das Periphere des FC Bayern München vereint: Hinter der Müllverbrennungsanlage und nah an der Autobahn, für die Fans aus Aschaffenburg, Konstanz oder Weiden in der Oberpfalz. Für die globale Marke und ihre dezentralen Verbündeten.

Das erste Tor im alten Olympiastadion hatte 1972 Gerd Müller erzielt. Das wichtigste auch. Ein 2:1 bei einer Fußballweltmeisterschaft zwei Jahre darauf. „Hier, da, zwei, eins“, erinnerte sich Müller gerade eben noch einmal vor laufenden Fernsehkameras. Die werden das Olympiastadion vermutlich bald meiden wie der Kaiser den Abstiegskampf. Immerhin um eine Leichtathletikweltmeisterschaft will sich die Stadt mittelfristig bemühen. Damit es noch einmal rund gehen darf in einem Baudenkmal, das noch an viel mehr erinnert, als nur an gute Architektur. Das Olympiastadion erinnert an eine Zeit, in der auch im gestalteten Stadtraum mehr Demokratie gewagt wurde.

Schöner, utopischer, unprätentiöser hat die Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich nie wieder gebaut. Ja wahrscheinlich ist in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen 33 Jahren nicht einmal ein bemerkenswertes Stadion entstanden. Höchstens Arenen, die gut sind für Heimsiege, Kirchentage und Peter-Maffay-Konzerte. Für alles, was man halt so braucht für eine Erlebnisgesellschaft. Die Allianz Arena indes ist darüber hinaus ein beeindruckendes, ein bemerkenswertes Stadion geworden. Ein großartiges Stück Architektur, so skulptural schön wie Zaha Hahdids Innsbrucker Skisprungschanze oder das 1997 fertig gestellte Diskusscheiben-gleiche Berliner Velodrom, das vom französischen Architekten Dominique Perrault gezeichnet wurde. Das neue Münchener Stadion ist eine Skulptur für 66.000 Begeisterte. Innen grau in grau in grün, außen ein wenig iMac und noch mehr Duschhaube, 2.800 weiße Luftkissen und ein notorisches Allianz-Logo.

Man wird es Uli Hoeneß missgönnen. Ausgerechnet er, der Wurstfabrikant in den Ralph-Lauren-Pullis von Peek & Cloppenburg, er, der guten Geschmack an seiner gesteppten Barbour-Jacke zu bemessen scheint, steht nun für ein Bauwerk, das doch weit über den neureichen Notwendigkeitsgeschmack des Bayern-Managers hinausweist. Und das doch letztlich auch aus einer Notwendigkeit heraus geboren wurde. Der notwendigen Feststellung nämlich, dass München, dass die Stadt dieses Olympiastadions, dass der FC Bayern und dass wohl auch der FC Deutschland 06 gut daran tun, nicht bloß eine weitere multifunktionale Mehrzweckhalle zu errichten, bei der sich bei gutem Wetter das Dach öffnen lässt. Die Arenen AufSchalke oder in Hamburg sind sicher an ausverkauften Spieltagen eine runde Sache. Die Allianz Arena ist es allein aus ihrer konsequenten, niemals angestrengten Formsprache heraus. Wären – was Architekturbücher gerne glauben machen – Gebäude tatsächlich nur für den kalten Blick des Weitwinkelobjektivs entworfen, das Entwerferteam Jacques Herzog und Pierre de Meuron hätten ihre Aufgabe schon einmal ziemlich brillant gelöst. Noch nie, so ein selbstbewusster Jacques Herzog, „habe man ein Fußballstadion so konsequent zu Ende gedacht“.

Das Münchener Olympiastadion war ein niedriges Gebäude. Hineingebaut in die Wogen eines künstlichen Parks. Dem Besucher öffnete es sich – wie ein antikes Theater – nach unten, nicht nach oben. Der erste Eindruck glich einem Blick in ein weites Tal. Und zu groß, zu weitläufig, zu weit weg war das großartige Olympiastadion auch immer wieder. Strafraumentscheidungen kamen allzu oft einzig als Flaschenpost in der Gegenkurve an. In den frühen Siebzigern, als sich der Fußball in der Bundesrepublik ein erstes Mal internationalisierte, mag dieses weite Feld eine passende Metapher gewesen sein. Doch spätestens der Blick nach England, nach Old Trafford und Highbury, verdeutlichte stetig, dass emotionaler Fußball eben in engen Arenen erlebt wird.

Auch die Allianz Arena wird zumindest auf halber Höhe betreten. Nicht durch einen Park allerdings, sondern über den begrünten Überbau einer gigantischen Tiefgaragenlandschaft. Für die Fans aus Aschaffenburg, Konstanz oder Weiden in der Oberpfalz. Auf halber Höhe aber präsentiert sich nun kein weites Rund mehr. Sondern ein kompaktes Rechteck mit organisch ausgeformten Ecken. Unterstützt wird dieser Eindruck durch weit nach innen gezogene Tribünendächer, die der Arena tatsächlich etwas Höhlenartiges verleihen. Er liebe die „alten, hässlichen britischen Stadien“, hat Jacques Herzog selbst dazu gesagt, „weil aus denen der Geist des Fußballs nicht entweichen kann“. Auch in der Allianz Arena könnte es diesem Geist gefallen. Immer vorausgesetzt, dass der den Weg raus nach Fröttmaning findet. Oder anders gesagt: Nach der Spielvereinigung Unterhaching hat die bayerische Landeshauptstadt nun mindestens einen weiteren Vorortclub. Vielleicht auch zwei, falls der TSV 1860 trotz knapp verpassten Bundesligaaufstiegs seine Heimspiele im nächsten Jahr in der Arena austrägt.

Überhaupt scheinen die Löwen momentan die eigentlichen wie einzigen Verlierer dieses Neubaus. Ihr Verein begegnet dem neuen Stadion als Zweitligist. Ihre Fans sprachen sich zum größten Teil gegen eine Realisierung weit draußen im Gewerbegebietsgürtel aus. Ihr damaliger Manager Karl-Heinz Wildmoser sorgte gemeinsam mit seinem Sohn für den großen Korruptionsskandal – den alle anderen Parteien mit blütenreiner Weste überlebten: der Bayern-Hoeneß und der Bayern-Beckenbauer, Münchens Oberbürgermeister Christian Ude und erst recht die Schweizer Stararchitekten.

In gewisser Weise sind Herzog und de Meuron die wirklich postmodernen Entwerfer. Nicht ein Frank Gehry, dessen aus den Fugen geratenen Splitterbauten zwischen Bilbao (Guggenheim Museuem), Los Angeles (Disney Concert Hall), Berlin (DG-Bank am Pariser Platz) und Herford (MARTa) allesamt einer ähnlichen Sprache vertrauen. Jacques Herzog und Pierre de Meuron realisierten am Ende des vergangenen Jahrhunderts die Tate Gallery of Modern Art in London, ein Bekenntnis der klassischen Moderne inmitten eines entnutzten Industrieareals. In Tokio einen schimmernden Prada-Diamanten, der die exklusiven Versprechungen des Haute-Couture-Hauses ziemlich wörtlich nimmt. In Cottbus eine Universitätsbibliothek, die in ihrer organisch geschwungenen Transparenz an die Savoy-Vase des finnischen Entwerfers Alvar Aalto erinnert. Ein gläserner Bücherbehälter. In der Planungs- beziehungsweise Bauphase befinden sich momentan noch die Hamburger Elbphilharmonie, realisiert hoch oben über den Dächern der Stadt auf einem hanseatischen Warenspeicher, sowie das Pekinger Olympiastadion für die Spiele 2008, auch eine Arena und doch eine ganz andere. Keine Duschhaube diesmal, sondern eine verwirrende Stahlskulptur, ein riesiges Vogelnest. Begreif- und erlebbar einmal mehr mit wenigen Blicken.

Wie diese Blicke funktionieren, mögen in der Allianz Arena die kleinen Dinge verdeutlichen. Und all das, was fehlt. Die Buntheit, die Vielheit, die Neben- und Behelfslösungen. Bratwurst und Getränke gibt es in der Allianz Arena etwa aus sachlichen, mattsilber gerahmten Verkaufsluken, eingelassen in betongraue Pfeiler. Und genau das steht übrigens auch über der Luke: „Bratwurst und Getränke“, in dunkelgrauer, schlichter Typografie. Sachlicher und gleichzeitig emotionaler wäre kaum zu kommunizieren, worum es in der Halbzeitpause geht. Das Spiel aber kann die Allianz Arena nicht alleine bestreiten. Zu wünschen wäre dem Stadion recht bald ein Ereignis wie das vorgestrige Champions-League-Finale. Da dürfen dann auch ruhig die Roten gewinnen. Und den schönen Bau mit Weißbier besudeln.