ORTSTERMIN: AUF WERBEFAHRT FÜR DIE ALTERNATIVEN LESETAGE
: Gedichte in der Anarcho-Schaukel

Der Fahrgast hört schon gar nicht mehr zu, fast vergisst er, den Taxifahrer zu bezahlen

Chris nimmt noch einen letzten Zug von seiner Zigarette. Dann setzt er sich auf den Fahrersitz seines Taxis und richtet den Rückspiegel. Er möchte auch mitkriegen, was hinter ihm passiert. Denn sein Taxi ist heute kein einfaches Auto, sondern die nach eigenen Angaben kleinste Lesebühne der Welt.

In Chris’ Taxi lesen Hamburger Literaten ihre Werke vor nichts ahnenden Fahrgästen. So will die Initiative „Lesetage selber machen – Vattenfall Tschüss sagen“ in der Woche vor dem Ereignis auf sich aufmerksam machen. Um mit dem Kohle- und Atomkonzern Vattenfall als Kultursponsor und Gründer der gleichnamigen Lesetage zu konkurrieren, haben Hamburger Kulturschaffende die alternativen Lesetage 2010 ins Leben gerufen.

Astrid Matthiae sitzt auch im Taxi. Sie ist eine der Initiatoren der alternativen Lesetage. „Vattenfall ist Klima-Killer und Parkzerstörer“, sagt sie wild gestikulierend, „die schaffen keine Kultur, die töten Kultur.“ Einerseits mache das Unternehmen in Ostdeutschland für den Kohleabbau ein Dorf nach dem anderen dem Erdboden gleich, andererseits schreibe es sich Kultursponsor auf die Fahne. „Das ist doch Greenwashing“, sagt sie. Andreas Greve, einer der Literaten des Lesetaxis, fasst die Problematik in sachlichere Worte. „Ich finde es uncharmant, dass Vattenfall in Hamburg Kultursponsor ist“, sagt der 59-jährige Autor.

In der Hafencity steigt ein Fahrgast zu. Zögernd lässt er sich auf die Rückbank nieder. Schlips, Kragen, Lackschuhe. „City Nord bitte“, sagt er von Matthiae zu Greve blickend. „Vorlesen? Einen Moment noch“, sagt der Fahrgast. Er nestelt in der Tasche seines Anzugs. „Ich muss noch jemanden anrufen.“ Nach einigem hin und her mit dem komplizierten Smartphone und einem Telefonat auf Englisch widmet er sich Greve und Matthiae: „Entschuldigen Sie bitte.“ Während das Taxi an der Alster entlang fährt, liest Greve einen offenen Brief vor, den er an zwei Kleinkriminelle geschrieben hat, die ihm im Urlaub das Auto aufgebrochen haben. Der Geschäftsmann hört aufmerksam zu. Wir halten vor dem Sitz eines großen Stromanbieters. Matthiae hält ein Plädoyer für die Sache. Der Fahrgast hört gar nicht mehr zu, fast vergisst er noch, Chris zu bezahlen. Dann hetzt er ins Gebäude. Andreas nickt mit dem Kopf in seine Richtung und sagt: „Wenn der wüsste, in was für einer Anarcho-Schaukel er gerade mitgefahren ist.“ Dann jagt der Objektschützer das Taxi aus dem Halteverbot.

Ein anderer Fahrgast steigt in Eimsbüttel zu. Er steckt seinen Kopf hinein und möchte schon wieder umdrehen, als Greve ihn hinein ruft. „Ich dachte, das Taxi wäre voll“, sagt er zögernd, setzt sich und stellt seine karierte Ledertasche vor sich auf den Boden. Fragend blickt er in die Runde. Matthiae erklärt dem jungen Mann um was es geht und Greve fängt an, Kindergeschichten und Gedichte vorzulesen. Der Fahrgast lächelt gequält, während das Taxi in Richtung Innenstadt unterwegs ist.

Am Ende der Fahrt stellt sich heraus, dass der Fahrgast Kunde bei Vattenfall ist. Matthiae gibt gleich Infomaterial heraus. „Ich wechsel den Stromanbieter. Versprochen“, sagt der junge Mann und nimmt auch gleich einen Stapel Flyer für sein Geschäft mit. „Siehste? Hat sich doch schon gelohnt“, sagt Greve. TIMO ROBBEN