Die Hölle des Mainstreams

EXISTENTIALISMUS MIT FOTOGRAFISCHEN MITTELN Die Galerie Swedish Photography zeigt „Les Amies de Place Blanche“ – eine der bedeutendsten Serien des schwedischen Fotografen Christer Strömholm

Strömholm suchte im Fremden das Eigene. Das eigene Unvertraute; den eigenen Abgrund

VON RALF HANSELLE

Die Hölle, das ist die Andere!: Gina, Kissmie oder Carmen; Jacky, Cobra oder Caprice. Manchmal rekelt sie sich auf dem Bett wie eine verspielte Sirene; manchmal steht sie nur da wie ein verschüchtertes Mädchen. Immer aber bleibt sie die Andere. Die, die nicht zu passen scheint – in ihre Zeit, ihre Welt, ihren männlichen Körper. Der große schwedische Nachkriegsfotograf Christer Strömholm hat sie über sechs Jahre hinweg ins Visier einer Kleinbildkamera genommen; an der Place Blanche – inmitten des verruchten Pariser Viertels Pigalle. Es ist die Andere im Gaullismus der 50er Jahre; die Andere im heterosexuellen Mainstream.

Strömholm, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nach Paris gekommen, bewohnte damals ein Zimmer im fünften Stock des Hotels Chappe. Dort, nahe den Peepshows, hatte er sie kennengelernt: Jackie und Nana – zwei transsexuelle „Night Birds“. Ihre käuflichen Körper waren quasi die Ansparsumme für eine bald erhoffte Geschlechtsumwandlung. Die beiden öffneten Strömholm die Tür zu einer geschlossenen Gesellschaft – zu den Drag Queens und Transsexuellen in der Nacht am Montmartre.

Melancholisch, einfühlsam

Die Schwarz-Weiß-Porträts, die der damals 40-jährige Fotograf von ihnen gemacht hat, waren Existenzialismus mit fotografischen Mitteln: melancholisch, einfühlsam und stets empathisch. Ein Stil, der im Fremden das Eigene suchte. Das eigene Unvertraute; den eigenen Abgrund. Mit dem fotografischen Bild zu arbeiten, gestand Strömholm später einmal, sei seine Art, zu leben, gewesen: „Wenn ich meine Bilder genau betrachte, sind sie alle nichts anderes als Selbstporträts, ein Teil meines Lebens.“ Ein Teil, den der vor zehn Jahren verstorbene Schwede in den Altstadtvierteln von Marokko gesucht hatte, bei den Künstler von Saint-Germain-des-Prés; unter den Kindern im spanischen Cuenca und eben auch bei Les Amies de Place Blanche.

Unter diesem Titel sind Strömholms Transvestitenporträts in den 80er Jahren als Buch erschienen – Bilder voller Eros und Schönheit. Von Nachtgestalten, die weit glamouröser daherkommen, als Tagwandler es sich vorstellen können. Da ist zum Beispiel Gina: eine hochgewachsene Blonde im eng anliegenden Cocktailkleid. Sie posiert für die Kamera wie einst Marilyn Monroe in „Some Like It Hot“. Oder da ist Cynthia: ein Pin-up; ein Hingucker. Hingegossen wie aus dem Playboy. Nur eben der Phallus zwischen Cynthias Lenden, der wäre für das Männermagazin vermutlich zu viel.

Christer Strömholm fotografiert die Drag Queens meist situativ; bei Nacht und bei available light. Immer nah dran. Fast eine Freundschaft. Des Tags teilt er mit ihnen das Nachmittagsfrühstück, abends beobachtet er sie beim Anziehen und Schminken. Und dann, in den frühesten Morgenstunden, geht er mit ihnen auf die Straßen hinaus. Zu den Freiern und zu den Voyeuren. Zu denen, denen sie ihre Schönheit schenken – vergleichbar nur den Turteltauben, die Nightlife-Fotografen wie Brassaï oder Robert Doisneau einst ebenfalls am Pigalle gesucht hatten.

Bis zu solch einfühlsamen Fotografien hatte Christer Strömholm einen langen Weg zurücklegen müssen. Einen Weg, so holprig wie das Kopfsteinpflaster am Place Blanche. Auch er, 1918 als Sohn eines Offiziers in Stockholm geboren, hatte früh mit dem eigenen Selbst zu kämpfen. Als er vier Jahre alt war, trennten sich Vater und Mutter; zehn Jahre später beging der fremd gebliebene Vater Selbstmord. Dann der Weltkrieg; der Widerstand; der Weg nach Paris. Eigentlich hatte Strömholm hier Maler werden wollen: 1946 aber entdeckte er die Fotografie für sich – zunächst experimentell und formalistisch; doch dann stolperte der Einzelgänger über die Menschen. Die Menschen, mit ihren brüchigen Leben, mit ihren Unsicherheiten, ihrem Fremdeln im eigenen Selbst. Menschen wie die Transsexuellen am Montmartre: „Sie setzen sich mit ihrer eigenen Identität auseinander; und das war auch der Ausgangspunkt meiner eigenen Arbeit.“ Eine Arbeit, die Jahre brauchte, bis sie ihr Publikum fand. Selbst in Strömholms liberaler schwedischer Heimat galten die Porträts seiner „Freundinnen“ von Place Blanche als anrüchig und widerspenstig. Erst als der Fotograf in den 70er Jahren zu Ruhm gelangt war – als er Leiter der legendären Stockholmer „Fotoskolan“ und 1998 sogar Träger des begehrten Hasselblad Award geworden war –, begann sukzessive ein Wandel. Heute ist Christer Strömholm neben seinem Schüler Anders Petersen der wohl berühmteste Fotograf seines Landes. Ein Existenzialist. Ein Fotograf mit dem Blick auf die Anderen. Auf Sabrina, Nana und Mimosa – die Hölle des Mainstreams. Die Hölle, die einem sagt, dass alles eben auch ganz anders sein könnte.

■ Christer Strömholms Serie „Les Amies de Place Blanche“ ist noch bis zum 26. Mai in der Galerie Swedish Photography zu sehen. Karl-Marx-Allee 62. Mi.–Sa. 12–18 Uhr